SEPTEMBER
2002

 
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Un-Vergessene afrikanische Revolutionäre: Julius Nyerere

Julius Nyerere

„Die Emanzipation von der Kolonialherrschaft ist nicht alles. Wir müssen unser Volk von Armut, Krankheit, Unwissenheit, Vorurteilen und Furcht befreien.“ (Julius Nyerere)

Julius Kambarage Nyerere wurde am 13. April 1922 in Butiama geboren. Sein Vater war der „Chief“ des kleinen Zanaki-Stamms. Nyerere beginnt seine Karriere zunächst als Viehhüterjunge, ab dem Jahre 1935 besucht er eine katholische Missionsschule, er wird jedoch erst 1943 getauft, als sicher ist, dass er nicht wie sein Vater Chief wird und eventuell mehrere Frauen haben wird. Die ökonomischen Verhältnisse der Familie erlauben es ihm, seine Studien auf einem Gymnasium und später auf einem College fortzusetzen. Nach dem Abschluss 1945 unterrichtet er einige Jahre als Lehrer an der Missionsschule von Tabora. Von 1949-1952 besucht Nyerere die Universität von Edinburgh/Schottland, wo er in Geschichte und Wirtschaftswissenschaft den Magistertitel erwirbt. (Nyerere war der erste tansanische Staatsbürger, der an einer britischen Universität studierte). Nach seiner Rückkehr arbeitet Nyerere wieder als Lehrer, doch das Hauptinteresse des inzwischen 30jährigen ist zu diesem Zeitpunkt die Politik. Sein Ziel war es, unter den 130 verschiedenen Stämmen eine Art von nationalem Bewusstsein zu schaffen.

1952 tritt Nyerere der African Association (eine Organisation für farbige Beamte in britischem Dienst) in Tanganyika bei. Bereits ein Jahr später wird er deren Präsident. Die African Association wird nun zu einer politischen Partei umgewandelt, der Tanganyika African National Union (TANU).

An der Spitze der Partei kann Nyerere seine Ideen im nationalen wie internationalen Rahmen erstmals einem breiten Publikum verkünden, wobei die nationale Unabhängigkeit mehr und mehr in den Vordergrund rückt. Sir Richard Turnbull (der britische Gouverneur in Tanganyika) sieht den Untergang der britischen Herrschaft in Tanganyika voraus und so schlägt er seinen Vorgesetzten vor, das Land in die Selbstherrschaft zu erlassen. 1960 lassen die Briten dann eine beschränkte Selbstregierung zu, die das Land in die Unabhängigkeit führen soll. Die TANU erringt bei allgemeinen Wahlen den Sieg und Nyerere wird Chefminister, nach der formellen Unabhängigkeit 1961 wird er Ministerpräsident. 1962 tritt eine neue Verfassung in Kraft und Tanganyika wird zur Republik Tansania (Vereinigung von Sansibar mit Tanganyika).

Im Februar 1967 verkündet Julius Nyerere die Arusha Declaration, mit der das Experiment „Socialism and Freedom“ beginnt. Dieses Experiment werde ich nun näher erläutern: Nyereres Entwicklungsgedanken gründen sich auf das „Vertrauen auf die eigene Kraft“, das man unter dem Begriff der Self-Reliance zusammenfassen kann. Wichtiger Bestandteil dieses Gedankens ist die Versorgung der Bevölkerung mit dem, was sie zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse benötigt, aus dem eigenen Land. Basisgesundheitsdienst oder Versorgung mit Trinkwasser auch auf dem Lande sind konkrete Inhalte dieses Konzeptes, die mehr oder weniger erfolgreich umgesetzt wurden. Nach Nyerere ist die Self-Reliance wesentlich eine Frage der Erziehung. Bildung soll nicht primär auf Schreibtischarbeit vorbereiten, sondern den Kindern vermitteln, wie sie ihren Familien Nahrung verschaffen oder Werkzeug herstellen und benutzen können.

Ein anderer wichtiger Bestandpunkt von Nyereres Politik war der Ujamaa-Sozialismus. Jeder soll nach seinen Fähigkeiten arbeiten, Alte, Kranke, Kinder und in Not Geratene sollen unterstützt werden, gegenseitiger Respekt, ein Minimum an Würde werden eingefordert und auch die Stellung der in der Praxis entgegen afrikanischer Tradition unterdrückten Frau soll verbessert werden. Zu diesem Zweck wurde die Bildung von Ujamaa-Dörfern vorgesehen, „Kooperativen“, in die die Bevölkerung aus ihren isolierten und schlecht zu versorgenden Weilern umgesiedelt werden sollte, um nach ursozialistischen Werten zusammenzuleben. Dabei betonte Nyerere, es gebe keinen vorgeschriebenen Weg für Ujamaa. Jedes Dorf müsse seinen Weg selbst festlegen und zwar mit der gesamten Gruppe. Keineswegs dürfte der Übergang durch Gewalt oder Zwang erfolgen.

Die TANU als Einheitspartei soll, nach der Vorstellung von Nyerere, nicht den autoritären Charakter haben wie in den anderen Ländern des „realen Soziaslismus“. Die TANU bildet einen Rahmen für wirkliche demokratische Prozesse, so wurden z.B. die Kandidaten für politische Wahlämter von der Bevölkerung selbst ausgesucht, bestätigt und auch wieder abgelöst.

Diesen Theorien entgegen sah die tansanische Wirklichkeit leider ganz anders aus: Entgegen der Konzeption Nyereres war die Umsiedlung der Bauern insgesamt keineswegs freiwillig. Obwohl Nyerere für einen gewaltfreien Weg war, lief es nicht immer ohne militärische Gewalt ab. Die Idee kooperativer Produktion wurde schnell vergessen und anstelle der erwarteten Produktionssteigerung kam es zum Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion mit der Folge zurückgehender Exporterlöse und von Ernährungsengpässen für die Bevölkerung. Mit der Abkehr vom „sozialistischen“ Kurs 1986 war die Ujamaa-Idee endgültig gestorben.

Nyerere selbst machte zu Anfang der achtziger Jahre vor allem äußere Entwicklungen für die nicht mehr zu verleugnende Wirtschaftskrise verantwortlich, etwa Ölpreissteigerungen nach dem Nahostkrieg 1973, extremes Kilma... Zu dieser verfehlten Agrarpolitik kam noch eine völlig unproduktive Bürokratie hinzu. So kam es, dass das Land sich immer mehr verschuldete und die Abhängigkeit von der politischen Umwelt wurde immer stärker.

Andererseits darf man die beträchtliche Verbesserung des Bildungssystem unter Nyerere nicht vergessen. Zwischen 1960 und 1970 stieg die Einschulungsrate an Primärschulen von 25% auf in vergleichbaren Ländern unerreichte 94% und die Alphabetisierungsrate unter Erwachsenen nahm von 10% 1960 auf 79% in 1979 zu. Das Gesundheitssystem wurde ebenfalls erheblich verbessert. Tansania unter Nyerere kannte keine ökonomischen Klassenunterschiede und sein Programm zur sozialen Gleichheit fand breite Akzeptanz. Zu den grössten Verdiensten Nyereres gehören sicherlich sein demokratischer Abgang, der für andere afrikanische Regime ein Vorbild darstellt und das Selbstbewusstsein, das durch sein Auftreten und die Inhalte seiner zahlreichen Beiträge in die afrikanische entwicklungspolitische Diskussion eingebracht wurde.

Am 14. Oktober 1999 ist Julius Nyerere in einer Londoner Klinik gestorben.

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