Am Mittwoch, dem 31. August 2005 fand im Kongresszentrum des Berliner Hotels Estrel der außerordentliche Parteitag der SPD statt. Ein Erlebnisbericht.

Es ist Mittwoch, der 31. August, 8.00 Uhr Ortszeit. Die Temperatur beträgt 20°C. Der Himmel über Berlin ist klar, die Sonne strahlt, es weht ein leichtes Lüftchen. Die SPD-Flaggen vor dem Hotel Estrel flattern energisch. Ein Vorzeichen?

Abgehetzt betrete ich das Foyer des schicken Hotels im weniger schicken Bezirk Neukölln. Die meisten meiner Kollegen sind bereits da, unser Chef teilt Namensbadges mit farbigen Rechtecken darauf aus. Rot bedeutet Zugang zum Plenum, gelb sichert das günstigere Mittagessen in der Presselounge, grün meint "du bist hier nur zu Gast" und was blau bedeutet, habe ich schon wieder vergessen. Wir haben den Code Red und unsere Mission besteht darin, Informationen und die von uns am Vortag eigenhändig gepackten Mappen an 750 Delegierte zu verteilen. Eine mühselige Aufgabe.

Nachdem die Raucher im Team ihre zweite Dosis Nikotin gezogen haben, ziehen wir alle vor den Tagungssaal. Ich fahnde auf die Schnelle mit meiner Kollegin nach Pfefferminzpastillen. Wenn's schon keinen Kaffee gibt…

Kaum sind wir wieder bei den anderen, müssen wir feststellen, dass der Raum noch nicht freigegeben ist. Zwei Hunde durchschnuppern die Kulissen des Geschehens nach Sprengstoff. Unser Chef fängt an zu nölen ("Jedes Mal das Selbe…"). Herr Wichtig fummelt an seinem ihm vertrauensvoll übertragenen Walki-Talki rum. Die nächste Runde Zigaretten beginnt zu glühen. Nun ist auch Jefe wieder besserer Stimmung und erzählt Geschichten vom Kampf zwischen Gerds Büroleiterin und der Technik und seiner ersten Begegnung mit Willy Brandt. Damals. In Meck-Pom. Besorgt um mein Durchhaltevermögen nutze ich die Gunst der Stunde und flöte: " A.-Mausi (so nenne ich unseren Chef, wenn ich was will), hat N. uns gestern nicht Kaffee für 8.00 Uhr versprochen?" Mausi seufzt und bestätigt und vertröstet mich auf später. Es läuft alles nicht so nach Plan. Aber die SPD ist ja flexibel…

Nach einer nikotinvollen halben Stunde und etwa zehn lautstarke Telefonate später betreten wir den Tagungssaal. Noch eine halbe Stunde bis zur Eröffnung. Noch zwei Stunden bis Gerd. In Windeseile verteilen wir Mappen und Broschüren. Dann ist auch der Kaffee da, den ein Kollege, unsere "Flughusche", liebevoll serviert. Er kann das richtig gut.

11.10 Uhr. Endlich ist es soweit. Gerd zieht ein, die Genossen jubeln. Bald darauf redet sich der Kanzler warm und nach einigem Anlauf hält er die Rede seiner Regierungszeit. Er zitiert unter anderem eine BPA-Meldung, die einen CDU-Kommentar zum Steuermodell des von Angela Merkel ins Schattenkabinett berufenen Steuerrechtlers Paul Kirchhof enthält. Dieser Kommentar erläutert, dass Kirchhof in seiner Beispielrechnung zum Steuerbetrag einer Sekretärin weder von einer verheirateten noch von einer ledigen Sekretärin, sondern von einer "rechnerischen Größe" ausgeht, nämlich von der "Durchschnittssekretärin". "Bei dieser Modellrechnung sei unterstellt, dass die Sekretärin 1,3 Kinder habe und zu einem gewissen Prozentsatz verheiratet sei." Die Menge grölt. Die Stimmung ist fantastisch. So geht das eineinhalb Stunden lang. Dann ist der Franz dran. Und so weiter und so fort.

Zwischendurch sehe ich mir die Stände diverser Aussteller an. Sogar Audi ist da. Ich bin erstaunt. Ich dachte, von denen hätte sich die Partei distanziert, seit publik geworden ist, dass einige Herren bei VW ab und zu mal auf Betriebsratskosten Ficken waren. Na gut.

Ich mache einen Bogen um Audi und plaudere mit den Herren von Enercon. Dann schlage ich einen Abstecher zum BEE ein und zu den Damen vom Deutschlandfunk. Nach einer weiteren Small-Talk-Runde kehre ich zu meinen Kolleginnen und Kollegen zurück. Für Lufthansa und die Deutsche Bahn habe ich keine Zeit mehr. Leider. Die letzte Verteilrunde beginnt.

Zum krönenden Abschluss singen die Genossen gemeinsam mit einem Bergmannschor aus dem Ruhrgebiet ihre Hymne "Wann wir schreiten Seit an Seit". Franz Müntefering und Gerhard Schröder reihen sich in den Chor ein. Wieder einmal habe ich das Gefühl, mich ganz dicht an den Wurzeln der Sozialdemokratie zu befinden. Ich beginne langsam zu verstehen und die Macht der Geschichte droht mich zu erschlagen. Sozialdemokratie ist mehr als eine politische Richtung oder eine Ideologie.

Nachdem die Prominenz sich verabschiedet hat, wird der Saal immer leerer, bis gegen 17.00 Uhr nur noch Haralds Nathalie da ist. Und wir natürlich. Wir winken. Gähnend schleppen wir uns nach dem ersten Umtrunk auf den gelungenen Parteitag zum Abbau. Die Zeit vergeht schnell mit dem Schleppen von Wahlurnenkisten und diversen anderen Materialien. Zwei Stunden später verlasse ich den großen Gebäudekomplex und schwinge mich nach beendeter Mission auf mein Fahrrad.

Es ist 19.00 Uhr Ortszeit, die Temperatur beträgt 20°C, der Himmel nimmt bereits abendliche Züge an und es geht ein leichter Wind. Es riecht nach Neukölln. Die SPD Flaggen sind schon lange eingeholt. "Ein Vorzeichen", denke ich. Mir wird kalt.

ma