JULI
2003

 
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Die Blauen Führer

Mag auch der Lonely Planet den Zeitgeist getroffen haben, ein vergleichbar detailliertes und brauchbares, wenn auch nicht allzu alternatives Werk derselben Färbung gab es schon früher: Les Guides Bleus, „Die Blauen Führer“.

Die im Pariser Verlag Hachette auch auf Deutsch erschienenen kompakten und leichten Reiseführer mit, je nach Umfang, mehreren Lesezeichenbändchen boten dem Reisenden bereits in den 1960er Jahren ausführliche Informationen über die besuchten Länder. Unter anderem erschienen sind Reisebegleiter durch Italien, Griechenland und sogar Marokko.

Da weitere Reisen zu dieser Zeit noch nicht so stark verbreitet waren wie heute und der moderne Pauschaltourismus noch nicht existierte, ist auch die Zielgruppe leicht zwischen den Zeilen von Mehrsternehotels und Autorouten herauszulesen: Wohlhabende Europäer oder Geschäftsreisende, auf jeden Fall gebildete und kulturell interessierte Menschen – deren Fortbewegungsmittel eindeutig das Auto gewesen zu sein schien.

Wie der Lonely Planet bieten auch Die Blauen Führer ausführliche Informationen. Der Reisende wird nicht alleingelassen auf der Suche nach Unterkunft, Postamt, Restaurants, Sportmöglichkeiten, Bahnhöfen und Flughäfen oder Museen und deren Öffnungszeiten. Wahrscheinlich der Zeit entsprechend finden sich jedoch keine Hinweise auf Besonderheiten wie Homosexuellenszene und dergleichen, auch die den Lonely Planet auszeichnenden Verhaltenstips fehlen völlig (vielleicht waren die Menschen jener Zeit einfach noch besser erzogen).

So beschränkte man sich hier insbesondere auf kilometergenaue Wegbeschreibungen und Auszüge aus der Geschichte, die viele Lehrbücher auch heute noch alt aussehen lassen (und die das Verständnis und das Begreifen des Gastlandes mindestens ebenso fördern wie Benimmhinweise). Routenbeschreibungen und geschichtliche Informationen sind geschickt miteinander vermischt, so daß der Weg das Ziel sein konnte. Dafür sprechen auch die zahlreichen penibel gezeichneten, punktgenau wirkenden farbigen Karten zum Herausfalten.

Die Sprache der Blauen Führer entstammt klar den 1960er Jahren vor der Studentenrevolte; Wörter wie „Negergarde“ oder „Muselmann“ sind in unserer Zeit weit überholt.

Mit dem halben Gewicht und einem Drittel der Größe des Lonely Planet wären Die Blauen Führer auch heute noch zuverlässige Reisebegleiter, könnten sie nur in puncto Aktualität mit modernen Werken mithalten. In vielem anderen müßten sich letztere ganz sicher vor ihnen verstecken. Sie heute zu lesen, ist auf jeden Fall ein kleines Abenteuer für sich – eine kleine Zeitreise wie die Lektüre eines alten Reisewörterbuches.

Wer Lust bekommen hat, sollte im Freizeitliteraturbereich seiner örtlichen Universitätsbibliothek stöbern oder sein Glück auf ebay versuchen (welches allerdings den Suchbegriff „Führer“ verbietet: nicht entmutigen lassen und mit „Reiseführer“ weiter probieren), wo man ab und an einige Exemplare äußerst günstig erwerben kann. Sie sind immer noch jeden einzelnen Cent wert.

mp