| Drei Fragmente
 1. Devendra Giri: Der Bahnpolizist im Autorikschafahrer
 
 Krachend hält der Rikscha vor dem Max-Mueller-Bhawan (Goethe-Institut), 
          Delhi, an:
 
 >Ich möchte zum Neu Delhier Bahnhof. Wie viel würde es 
          kosten?<
 >Vierzig Rupien, Sir!<
 >Zwanzig Rupien?<
 >Sir, der Bahnhof ist doch weit von hier. Ich verlange von Ihnen 
          nicht viel Geld.<
 >Zwanzig Rupien?<
 >Sir, sogar würde die Mindestgebühr samt Ihren drei Gepäckstücken 
          dreißig Rupien betragen.<
 >Gut, ich gebe 25. Lass uns fahren!<
 
 Devendra Giri, mein Fahrer, ist ein Brahmane gehobener Klasse, und er 
          hat:
 
 >Sir, ich habe einen Hochschulabschluss! Sir, Sie würden es 
          mir nicht glauben!<
 >Doch! Doch! Ich glaube es Dir.<
 
 Devendra Giri hat einen Hochschulabschluss in Wirtschaftswissenschaften. 
          Er wollte für ein sicheres Gehalt einen Job bei der indischen Bahnpolizei. 
          Mit Erfolg bestand er den Gesundheitstest. Dann kamen die Bestechungsgelder 
          ins Spiel. Jeder Kandidat musste 50, 000 bis 70, 000 Rupien (1200  
          5000 US $) zahlen. Die Rekrutierung wurde jedoch in den darauffolgenden 
          Monaten annulliert, nicht weil die Bestechungsaffäre aufgedeckt 
          wurde. Die Bosse stritten sich pausen- und ergebnislos wegen des Kuchenanteils. 
          Alle 1117 Kandidaten wurden entlassen, und inzwischen waren die Gelder 
          gewaschen.
 
 >So bin ich nach Neu Delhi gekommen. Wir klagten beim Gericht an, 
          und der Prozess ging bis zum Obersten Gerichtshof. Wegen des Betruges 
          haben wir den Fall in der letzten Instanz doch verloren.<
 
 Im Gewühl der Menschen, Tierarten und Fahrzeuge drängelt der 
          Rikscha in kürzeren Sprüngen durch. Devendra erzählt:
 
 >Ich wollte bei meiner Familie nicht mehr als Bürde bleiben. 
          So fahre ich jetzt Autorikscha.<
 >Schickst Du Geld auch nach Hause?<
 >Nein Sir, es bleibt kaum was übrig! Meine Frau wohnt auch hier 
          in Delhi bei mir.<
 >Aha! Und hast Du auch Kinder?<
 >Noch nicht, Sir! Das erste Kind ist unterwegs.<
 >Aha! Sehr schön! Und möchtest Du einen Sohn oder eine 
          Tochter?<
 >Egal, Sir! Auf jeden Fall wird es bei einem bleiben!<
 >Sehr gut! Du bist ein sehr progressiver Mensch.<
 >Sir, der Lebensunterhalt in Delhi ist so teuer, dass man sich selbst 
          kaum ernähren kann.<
 >Hm!<
 >Ja Sir! Meine Frau hat auch studiert.<
 >Schön! Geht sie auch arbeiten?<
 >Nein, nein, Sir! So was ist unmöglich bei uns!<
 >Ja?<
 >Ja, Sir! Wir gehören zu Brahmanen höherer Klassen: Dwedis, 
          Triwedis, ...<
 >Ja?<
 >Und es können vor dem Hause Millionen liegen. Aber die Frau 
          wird nicht aus der Haustür treten.<
 
 2. Die Schülerin des Philosophen Krishnamurti: Teachers are 
          born, they are not made.
 
 Suman Mishra, eine zierlich-hübsche Inderin, war hochgebildet - 
          eine Akademikerin durch und durch. Die Pädagogin aus Leidenschaft 
          und qua Ausbildung machte ihren Examensabschluss über den südindischen 
          Philosophen Jiddu Krishnamurti. Jiddu Krishnamurti (1897-1986) wurde 
          in den USA und in Europa über die Theosophin Annie Besant bekannt. 
          Er predigte einen Seelenfrieden durch den Einklang von Universum und 
          innerem Ich. Es gibt nicht viele Bücher von ihm. Seine Reden und 
          Gespräche, u. a. über die Erziehung, gewannen eine beträchtliche 
          Zuhöreranzahl in der ganzen Welt.
 
 Suman war interessiert am deutschen Schulwesen. Da meine Nichte und 
          mein Neffe in ihre Schule gingen, wurde sie mir über meinen Schwager 
          vorgestellt. Es ergab sich ein reges Gespräch zwischen uns, und 
          wir unterhielten uns heiter eine gute Stunde. Mir fiel es schwer, die 
          Unterschiede aufzuzählen: Die Tatsache überraschte Suman sehr, 
          dass die Schulen in Deutschland nicht weniger belastet seien, dass sich 
          die Lehrer von den Schülern (und umgekehrt) gestresst fühlen. 
          Zum Schluss fragte mich Suman:
 
 >Würden Sie meiner Behauptung zustimmen: Teachers are born, 
          they are not made.<
 >Yes!<
 
 Wie ihr Name besagt, kommt Suman Mishra auch wie Devendra Giri aus einer 
          gehobenen Brahmanenfamilie. Nach dem sich Suman freundlich lächelnd 
          verabschiedet hatte, erzählte mir mein Schwager eine indische Story 
          über Sumans Familie. Suman habe zwei jüngere Brüder. 
          Die beiden seien arbeitslos, auch weil sie im Studium Trottel und ungemein 
          faul gewesen seien. Sie seien jedoch im richtigen Alter verheiratet 
          und haben mehrere Kinder. Der Onkel hat eine der unzähligen Privatschulen 
          gegründet. Und als Schuldirektorin kam die einzige hochgebildete 
          unverheiratete Nichte in Frage.
 
 >Wann werden die Eltern endlich Suman verheiraten? Oder wird sie 
          vielleicht selbst heiraten?< fragte ich meinen Schwager verdutzt.
 
 Der Schwager grinste eine Weile.
 
 >Was meinen Sie?< fragte ich nochmals.
 
 >Das würden sie nie tun!<
 
 >O Gott! Warum? Sie wird von Tag zu Tag älter.<
 
 >Ja, aber sie ist die einzige Geldquelle, auf die die ganze Familie 
          angewiesen ist. Die Eltern und die Gebrüder würden schwer 
          diesen fließenden Hahn zudrehen.<
 
 3. Transzendenz in einem verspäteten Zug
 
 Im Gegensatz zu den endlosen Disputationen legen die Inder bei ihren 
          Gesprächen Wert auf Harmonie. Die Widersprüche vermeiden sie 
          nicht, sondern die Konfrontationen. Nehmen wir mal an, zwei Reisende 
          unterhalten sich über das Göttliche und das Irdische in einem 
          indischen Zug, der schon eine siebenstündige Verspätung hat.
 
 Einer ist ein wohlhabender Großhändler, der eine staatliche 
          Einrichtung wegen des Millionenbetruges angeklagt hat. Er befindet sich 
          auf der Rückfahrt nach der letzten Vernehmung im Obersten Gerichtshof 
          in Neu Delhi. Der Bankier ist unterwegs, um die Jahresbilanz einer Bankfiliale 
          im Westen Indiens zu prüfen.
 
 >Glauben Sie an Atman?< fragt den Bankier der Großhändler.
 
 >Ich glaube daran... Ich glaube an das Göttliche... Gerade in 
          diesem Alter um 50 besinne ich mich mehr darauf.< antwortet der Bankier.
 
 >Basierend auf Atman, gibt es im Hinduismus viele Glaubensrichtungen.< 
          ... der Großhändler.
 
 >Bis zum 25. Lebensjahr weiß einer kaum über sich selbst... 
          Und in den nächsten 25 Jahren kümmert er sich bloß um 
          seine eigenen Angelegenheiten (Frau, Kinder, Haus, ...). Bis zum 50. 
          Lebensjahr sollte er jedoch zur Besinnung gekommen sein... Sonst ist 
          es allzu sehr spät.< ... der Bankier.
 
 >So wie mit dem Zuckerrohr. Zuckerrohr ohne Saft ist völlig 
          nutzlos. Das gilt genauso für den menschlichen Körper.< 
          ... der Händler.
 
 >Ab 50 soll man sich auf jeden Fall mit dem Atman, dem Göttlichen, 
          ... beschäftigen. Sonst wird es allzu sehr spät.< ... der 
          Bankier.
 
 >Wenn man aus dem Zuckerrohr seinen Saft herausgequetscht hat, ist 
          er völlig nutzlos. Der menschliche Körper hat mehr Säfte 
          in seinen Jugendjahren und somit auch mehr den Gebrauchswert... Mit 
          dem Alter verliert er seine Säfte und damit seinen Wert... Und 
          an einem saftlosen Körper würde sogar der höchste Gott 
          kein Interesse haben!< schließt rhetorisch seinen Exkurs der 
          gebildete Händler ab.
 
 >So ist es! Dann wird es allzu sehr spät.< ... der Bankier.
 
 Die Kasten im Umbruch:
 
 Das Kastenwesen im postkolonialen Indien ist durchaus sehr strudelnd. 
          Nicht wegen der Tatsache, dass die indische Verfassung jeder Religion 
          und Kaste Gleichheit gewährt. Vielmehr agieren die Kasten sehr 
          komplex je nach ihrer politischen Macht, die wiederum unmittelbar von 
          Wirtschaftsbossen, Mafias und Gangstern unterstützt wird. Hinzu 
          kommen ihr gesellschaftlichen Status (Geld, Ausbildung, Ansehen) und 
          ihre regionale Über- bzw. Unterlegenheit. Es ist Gang und Gäbe, 
          dass ein Brahmane, die oberste Priesterkaste, aus dem benachteiligten 
          und berüchtigten Bundesland Bihar in der Metropole Delhi Rikscha 
          fährt. Und die Gangs der Harijans, Jadavs, Mallahars, der unteren 
          Kasten, strecken die Rajputs und Bhumijars, die höheren, en masse 
          nieder. In Kürze: Alles ist schwierig und vielschichtig wie das 
          Indien im Jahr 2004.
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