AUGUST
2003

 
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Renate: Ihre Nachbarn
Alle zitierten Textstellen aus:
Renatika (in zwei Bänden)
Privatverlag D´Arbrette, Spandau 2001
© Kreatives Schreiben e.V. und bei den AutorInnen

1. Die Monatslosung der Renatuther Brüderversammle für August 2403 steht im ersten Kapitel des Freiheitsevangeliums der Renate:

,Okay Schatz‘, sagte Elli die Freundliche, ,laß uns ein Kind zeugen
und dann soll das Kind die Welt verändern, wo wir sie nicht verändert haben.
Komm laß uns gleich zeugen.‘

(EvFrei 1,12.13)

Meine Töchter, liebe Brüder!

Ich bin Telephon-Entlaster bei der Allgemeinen Telephon-Entlastungsstelle in Berlin. Rund um die Uhr gehen hier Anrufe schwer Belasteter ein, die bei uns telephonisch die Last losquatschen wollen. Gerade in heutigen Zeiten, in denen immer weniger Menschen einer renatistischen Versammlung angehören, ist dies oftmals ihr einziger Weg, Entlastung zu finden, wenn einmal wirklich alles über ihnen zusammenzubrechen droht.

Seit etwa einem Vierteljahr ruft fast täglich eine junge Frau bei mir an. Die ersten Tage sagte sie gar nichts, legte nach wenigen Sekunden wieder auf. An meinem Display konnte ich allerdings immer wieder die gleiche Nummer ablesen. Dann meldete sie sich noch immer nicht, begann aber nach kurzem, stockendem Atem zu weinen – bevor sie wieder auflegte. Daran konnte ich nun zumindest ablesen, daß es sich um ein Kind oder eine Frau handeln müsse. Nach über drei Wochen sprach sie erste Worte, dann Sätze, bis sie mir schließlich ihren Namen nannte.

Ganz, ganz langsam bekam ich ein Bild von ihrer Lage. Die junge Frau wohnt in einer jener Elendssiedlungen am Rande Berlins bei einer verwitweten Tante. Sie mußte von zuhause fort, denn sie bekam ein Kind von einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet ist und der sich – wie ich jetzt weiß – weder um Kind noch um Mutter kümmert. Immerhin überweist er monatlich Geld – was in unseren Zeit ja durchaus etwas ist –, sonst will er aber, wie die junge Frau mir schmerzlich sagte, nichts mehr mit ihr zu tun haben.

Für ihre Eltern war sie zu dem Zeitpunkt eine Schande geworden, ab dem nicht mehr zu verbergen gewesen war, daß sie schwanger war. Sie befahlen ihr, sich etwas zu suchen, wo sie nicht den neugierigen Blicken der Nachbarn ausgesetzt wäre. Für sie sei in ihrem Hause, unter ihrem Dach kein Platz mehr – und überhaupt, warum habe sie nicht abgetrieben, als es noch Zeit gewesen sei...

Zu diesem Zeitpunkt hatte sie sogar noch eine Arbeitsstelle, die sie allerdings aufgeben mußte, um sich ihrem Kind widmen zu können. Ihre Tante ist zu alt, ihr kann sie das Kind nicht anvertrauen. Sie wäre dem allein nicht mehr gewachsen. Dennoch hofft sie, später wieder Arbeit zu finden und einen Kindergartenplatz bezahlen zu können, wenn das Kind aus dem Gröbsten heraus sein wird.

All das hat mir die junge Frau so nach und nach bei ihren Anrufen erzählt, die manchmal nur einige Minuten dauerten, bis ihr die Stimme wieder erstickte.

Was mich aber an der ganzen Geschichte am meisten empörte, das war die Tatsache, daß ihre Eltern „gute“ Versammlungsmitglieder sind. Die Mutter ist sogar im Vorstandsgremium. Für ihre Eltern ist ein Donnerstag kein Donnerstag, wenn sie nicht in der Renatistenversammlung waren, wenn sie nicht die entlastenden Worten aus den Renatika gehört haben. Und so frug ich die junge Frau einmal: „Wie können Ihre Eltern das vereinbaren, auf der einen Seite hören sie die entlastende Botschaft Renates immer wieder für heute neu ausgelegt – und dann schicken sie ihre eigene Tochter aus dem Haus?“

Sie gab mir lange Zeit keine Antwort. Erst Wochen später sprach sie mich darauf an: „Wissen Sie,“ sagte sie, „ich habe darüber nachgedacht, was Sie gesagt haben. Ich glaube, für meine Eltern ist das gar kein Widerspruch. Sie haben immer so gelebt. Es geht ihnen gut, ja, sehr gut. Sie haben ein schönes Haus mit Garten in einer noch guten Gegend. Aber darüber haben sie nie nachgedacht. Sie haben über andere gesprochen und nie daran gedacht, daß es in ihren vier Wänden selbst einmal so sein könnte. Das kommt wohl daher, daß ihnen in ihrer heilen Weilt auch immer ein heiles Renate-Bild vorgespielt wurde und wird. Da sind alle bereits entlastet. Und wer noch schwer beladen ist, der ist halt selbst dran schuld, der gehört eben nicht zu Renate, mit dem will man nichts zu tun haben. Und nun bin ich es auf einmal, die aus dem Rahmen ihrer heilen Bilder-Welt herausfiel. Das bedeutet für sie eine Belastung. Ich habe sie belastet. Sie wären niemals auf die Idee gekommen, daß sie mich – geschweige denn Fremde – entlasten könnten, daß das ihre Aufgabe als Renatisten wäre.“

Meine Töchter, liebe Brüder, das hat mich sehr nachdenklich gemacht. Da gibt es auf der einen Seite Menschen in unseren Tagen, die nach tiefer Entlastung schreien. Ich als Telephon-Entlaster habe tagtäglich mit ihnen zu tun. Und da gibt es auf der anderen Seite solche, die sich Renatisten nennen, und nichts vom täglichen Lastenausgleich wissen möchten. Welch Paradox! möchte man da aufschreien. Da baut sich eine Renatistenversammlung inmitten all unseres Elends eine heile Renate-Welt auf, die doch eigentlich so gar nicht dem entsprechen will, was wir da in den Renatika lesen.

So einfach hatten es Renates Eltern auch nicht. Ja, sie waren noch nicht einmal verheiratet. Das alles wird in solchen Versammlungen übersehen. Gerade wir als neuexegetisch-poldeïschen Versammlungen sollten am Betty-Tag, dem Geburtstag Renates, aber nicht übersehen, daß bei weitem nicht alle Menschen in gutbehüteten Familienverhältnissen aufwachsen.

Gewiß, auch in unseren Versammlungen werden an diesem Tag Familienfeste abgehalten. Wer aber keine Kinder hat oder gar alleinstehend ist, kann sich da schnell ausgeschlossen fühlen. Ich meine, es muß sich auch bei uns beides zusammenfinden: unser eigenes, persönliches Leben und die alle Lasten sprengende Botschaft von der Geburt Renates. Darum können wir uns nicht nur auf das ganz Persönliche zurückziehen, wie es offenbar die Eltern jener jungen Frau tun. In irgendeiner Weise muß auch bei uns zum Ausdruck kommen, daß Renate die verschlossenen Türen der Welt geöffnet hat, daß unser eigenes Leben in die Weite der Botschaft vom Lastenausgleich und Rundlaufen der Welt einbezogen ist. Ich hoffe, daß uns allen dies am Betty-Tag ganz bewußt wird.

Renanata, Ihr
Timo Beil,
Telephon-Entlaster in Berlin


2. Grußwort zum Betty-Tag

Auch in diesem Jahr begehen die Renatisten am 28. August den Geburtstag Renates – nach der Geburtserzählung im Bettina-Brief (Bet 3,1-11) Betty-Tag genannt. Dieser Tag ist für die meisten vor allem das Fest der Kinder. Die Ferienzeit ist zuende. Die Tage werden wieder kürzer. Familien und Freunde kommen zusammen, um noch einmal gemeinsam zu feiern, zu grillen und den ausklingenden Sommer zu genießen. Die Kinder, vor allem die frisch eingeschulten, bekommen große Geschenke. Und abends sitzt man meist bei Herva mit Mosel beieinander und betrachtet die Urlaubsdias. So soll es trotz aller widrigen Umstände auch in diesem Jahr sein!

Das gesamte Ceryx-Team wünscht allen Lesern einen schönen Betty-Tag bei gutem Wetter und sternklarem Himmel.

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