OKTOBER
2002

 
Rubriken
 
Service
 
Kontakt
EXTRA

 

Deutsche Wiedervereinigung: Ein Alptraum des Neu-Delhier Brecht-Zentrums

Das Symbol der Wiedervereinigung auf einer deutschen Münze




Aus:
Die galoppierende Kuhherde.
Essays und andere Prosa

„Es gibt immer noch Menschen, die davon träumen, dass die BRD und die DDR wieder eins sein werden.“ So äußerte sich 1988 in Neu Delhi ein indischer Dozent in seinem landeskundlichen Deutschunterricht. Ein pflichtbewusster Pädagoge, der als lerneifriger Student an der Hamburger Universität sein Studium der Musik- und Literaturwissenschaften abgeschlossen hatte. Er kam in seinem gelben niedlichen VW-Käfer zur Hochschule, und wegen seiner Wissensbreite gehörte der sehr gut aussehende, unverheiratete Lehrer zu meinen Idolen. Mit seinem britischen Englisch und deutschem Deutsch jagte er uns, den nicht weniger ehrgeizigen Schülern, ehrfurchtsvolle Angst ein.

Mit dem Spruch konnte kaum jemand in der Klasse etwas anfangen. Die beabsichtigte Ironie kam nicht herüber, und der weise Mann begann, alleine über den Witzgehalt seines gelungenen Spruchs zu lachen. Und da jetzt unser Lehrer über etwas lachte, lachten wir dann auch mit.

Wir waren nicht unkritische Schüler in jener erstklassigen, fremdsprachlichen Abteilung der Jawaharlal Nehru Universität. In diesem Fall war jedoch die thematische und sprachliche Diskrepanz sehr groß.

Die hochangesehene Hochschule galt als Hochburg der Marxisten, und das Deutsche Zentrum (Centre of German Studies) benannte sich als Brecht-Zentrum. Da kam ich gezwungenermaßen mit Marx und Lenin in Berührung. Ich empfand die beiden für mich trocken, und ich versuchte sie, die Hochschulgötter, so weit wie möglich von mir fern zu halten. Im Gegensatz dazu interessierte mich der Dichter Bertolt Brecht immer. Aber nicht wegen seiner polemischen Lehren, die uns im Centre vorgegaukelt wurden: Das Gute gegen das Böse, der gleichgestellte Proletarier gegenüber der klassenfeindlichen Bourgeoisie, der nahende Sieg des guten Sozialismus gleich der bevorstehende Untergang des bösen Kapitalismus. Diese Weltrealien verkauften unsere sehr wohlhabenden Uni-Gelehrten mit dem Rotwein aus der BRD an uns. Die intelligenten Köpfe, die immer öfter die indische Sommerglut verließen, um im mäßigen Europa Kongresse und Tagungen zu besuchen. „Beautiful Europe“ nannten sie: Schottland, Heidelberg, Tübingen, Salzburg, ... Vielleicht führte der Dichterfürst Brecht auch sein Leben harmonisch wie diese indischen Intellektuellen – gut predigen und auch gut leben. Egal! Brecht interessierte mich immer, und ich las ihn immer wieder gerne. Wegen seiner Satire. Wegen seiner Ironie. Wegen seiner unmittelbaren Sprache. Und nicht zu vergessen, wegen der literarischen Verarbeitung zahlreicher historischer Stoffe.

Genauso war diese von der marxistischen Dialektik angehauchte Universität für mich interessant aus anderen Gründen, die auch alle anderen guten Hochschulen Indiens anbieten: Eine erstklassige kostenlose Ausbildung, komfortable Unterkunft im Studentenwohnheim, ein sehr gutes günstiges Essen, über das die Studis pausenlos meckerten. Und noch wichtiger waren für uns Männer die hübschen Großstadtstudentinnen, mit denen die Jungs die ganze Zeit in Cafés saßen. Oder sie verbrachten die schönen indischen wolkenlosen Nächte draußen an Teekiosks im Freiem – anmachend, flirtend, und lachend.

Ich komme aus einem überbevölkerten Flachland (Bundesstaat Bihar, die dritte Welt Indiens), dessen gesellschaftliche und feudalistische Strukturen bis heute weiter erstarren. Und ich mag Berge, Wälder, Wüsten, wenige Menschen, pluralistische Gesellschaften... So ist diese Hochschule auf dem Aravali-Gebirge optimal situiert. Abgelegen von der Weltmetropole Neu Delhi!

Also, ich machte mich immun gegen die Kommunismusluft und verliebte mich: in die Felsen, in die leuchtend roten Dämmerungen, in die hübschen Frauen, die enge Jeanshosen trugen und Zigaretten rauchten. Junge Studentinnen, die mit ihren Verehrern in den nahegelegenen McDonald’s gingen, um Burger und Eis zu essen. Einige wollten danach mit dem WHISKEY auf dem Felsen den marxistischen Sozialismus ausdiskutieren. Als sie so weit waren, machte ich mich auf die Socken. Und ich ließ mich alleine in den kühlen Nächten auf dem Campus herumirren – Felsblöcke antastend, Sterne anschauend und Zirpen der Zikaden horchend.

Als im Jahr 1988 dieser hochqualifizierte Dozent seinen autoritären Spruch abließ, wollte ich ihm irgendwie widersprechen. Aber die ehrfurchtsvolle Angst vor seiner Sprachkompetenz und Wissensbreite besiegte jenen Wunsch eines 19-jährigen Schülers. Außerdem war ich damals in der Klasse der einzige Dörfler unter den zivilisierten Großstadtkindern. Einer, der damals nicht so gut das indische Inglish sprach – wie die Metropolenkinder, die falsch inglish fließend sprechen. Mich irritierte damals die Tatsache wenig, dass er als Inder in Indien über die deutschen Verhältnisse einen verabsolutierenden Kommentar abließ. Viel mehr widerte mich seine Sicherheit an, mit der er ein Urteil über den weltgeschichtlichen Ablauf fällte. Ein Ablauf, dessen Geschwindigkeit und Richtung sich nicht selten als inkonsequent, inkohärent und strudelnd erweisen.

Das Statement jährte sich kaum, und es ging mit dem Spektakel los. Die Studenten aus allen Fakultäten hockten voller Neugier und Spannung und gafften dem Mauerfall in der Zauberkiste zu – gerührt und applaudierend. Ich wurde auf dem Laufenden gehalten von den Freunden, weil ich selten länger Fernsehen sah. Man musste sehr früh viel jobben – im bitteren harten Neu-Delhier Kapitalismus –, weil sich die Fäden meiner bürgerlichen Familie immer weiter auflösten. Die wenigen freien Stunden reichten kaum aus: für die Frauenbewunderung, für die dämmernden Abende, für die duftenden Nächte...

Centre of German Studies, alias das Delhier Brecht-Zentrum, lud in jener turbulenten Phase der Weltgeschichte einen Verteidiger der Heimat Brechts, das heißt einen Diplomaten der DDR-Botschaft, zu einer Podiumsdiskussion ein. Der gutgewachsene Volksvertreter kam mit seiner simultanen Dolmetscherin, deren Fähigkeit und Schnelligkeit alle englischsprechenden indischen Professoren in Verlegenheit brachte. Die Diskussion eröffnete wiederum der gleiche Dozent mit seinem britischem Englisch. Auf der Sitzung saßen auch zwei Wessis, zwei DAAD-Lektoren, still mit ihren Fragezeichengesichtern. Während dessen verteidigte der DDR-Volksvertreter souverän und zugleich verbittert seine untergehende Republik. Die Quintessenz seiner Sätze war etwa so: Der Westen oder der Kapitalismus setze alle Mittel, Geld und Propagandamaschinerie, ein, um sein Land zu erobern und sein Volk verführerisch zu beirren.

Die Untersuchung des germanistischen Instituts in Halle besagt, dass die Ost-Deutschen das west-deutsche Vokabular vollständig übernommen haben. Das steht in den Zeitungen zum zehnten Jahr der deutschen Wiedervereinigung. Und ich befürchte, dass wieder ein Neu-Delhier Germanist diese Feststellung und die damalige Äußerung des DDR-Botschafters in eine Länge ziehen würde. Und dann: „Klar doch! Das habe ich doch behauptet! Der böse Kapitalismus hat den guten Sozialismus erobert und ihn ausgerottet... der Demokratischen Republik den Garaus gemacht...“ Halt! Stopp! Nicht wieder so schnell! Das Hallesche Germanistische Institut ist auch der Meinung, dass es auch gewisse ost-deutsche Begriffe gibt, und zwar ein paar, die in den alltäglichen Sprachgebrauch eines jeden Deutschen eingedrungen sein sollen, zum Beispiel „angedacht“ und „abgenickt“. Ich rufe im nachhinein meine Freunde an, und frage nach diesen zwei Wörtern. Alle können mit dem Ersten gewöhnliche Sätze bilden. Mit dem Zweiten haben sie allerdings Schwierigkeiten. Ich auch.

*Verfasst am frühen Morgen des 3. Oktobers, als sich der Himmel über Sandershausen völlig aufgeklart hatte. Über Kassel war es noch bewölkt. Und sämtliche Sterne schienen hinabzusteigen. Ja, sie kamen funkelnd ungewöhnlich ganz nah runter – bis zu meinem offenen Fester und sagten mir: „Schau! Das ist auch möglich!“. So wie die listige unmittelbare Sprache des Dichterfürsten Bertold Brechts, die vieles ermöglicht.

ak