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2003

 
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KUNST


Historienbilder erzählen: Géricault, "Das Floß der Medusa"

Théodore Géricault (1791-1824)
"Das Floß der Medusa"
1818/1819
Öl auf Leinwand, 491 x 716 cm
Paris, Musée du Louvre

 

Ein notdürftig zusammengezimmertes Floß treibt auf der stürmischen See, bedeckt mit Leichen und erschöpften Schiffbrüchigen. In einer letzten Kraftanstrengung türmen sich die Überlebenden zu einer Pyramide auf, an deren Spitze einer von ihnen ein Tuch schwenkt, um das am Horizont erscheinende Schiff auf sie aufmerksam zu machen.

Diese schreckliche Szene, von Théodore Géricault auf der Leinwand festgehalten, hatte ein reales Vorbild. Im Jahre 1816 stach die französische Fregatte Medusa gen Senegal in See. Als modernstes und schnellstes Schiff ihrer Zeit sollte sie die westafrikanische Kolonie wieder in Besitz nehmen, die England an Frankreich zurückgegeben hatte. Die Medusa stand unter dem Kommando von Hugues Du Roy de Chaumareys, dessen Königstreue mit einem Kapitänsposten belohnt worden war, obwohl er keinerlei nautische Erfahrung vorweisen konnte.

Die Katastrophe blieb nicht aus: Navigationsfehler und Fahrlässigkeit ließen die Medusa zwei Wochen später bei ruhiger See und guter Sicht auf die in allen Seekarten verzeichnete Arguin-Bank nahe der afrikanischen Küste auflaufen. Nachdem man sich zwei Tage lang vergeblich um eine Reparatur bemüht hatte, wurde die Räumung des Schiffes angeordnet. Mit 400 Insassen befanden sich jedoch mehr Personen an Bord, als die Rettungsboote fassen konnten. Der neubestellte Gouverneur, der Kapitän und die höheren Offiziere drängten sich in die wenigen Rettungsboote, während die restlichen 150 Passagiere mit einem eilig zusammengezimmerten Floß vorliebnehmen mussten, welches mit Tauen an Land gezogen werden sollte.

Zwei Stunden später wurden die Taue gekappt, das Floß sich selbst überlassen.

Die einzige Kiste Schiffszwieback war nach einem Tag verzehrt, der Wasservorrat ging in der ersten Nacht von Bord; übrig blieben einige Fässer Wein. Da das Floß an den Rändern ins Wasser hing, versuchten alle einen Platz in der Mitte zu erwischen, die jedoch schon von den bewaffneten Beamten und Offizieren besetzt war - den Matrosen hatte man die Waffen abgenommen. In der ersten Nacht verschwanden zwanzig Matrosen, in der zweiten Nacht starben weitere 65 Männer. Die Geretteten behaupteten später, eine Meuterei wäre ausgebrochen, und sie hätten die Wahnsinnigen nur mit Gewalt an der Zerstörung des Floßes hindern können. In Wahrheit hatten die Offiziere wohl die Gelegenheit genutzt, die Konkurrenz um Wein und gute Plätze zu verringern.

Nach dem vierten Tag wurde die Weinration durch Urin und Meerwasser ergänzt. Bereits nach dem dritten Tag kam es zu Kannibalismus, wie der Schiffsarzt Savigny später bezeugte: "Diejenigen, die der Tod verschont hatte, stürzten sich gierig auf die toten Körper, die das Floß bedeckten, schnitten sie in Stücke, und einige verzehrten sie sogleich. Ein großer Teil von uns lehnte es ab, diese entsetzliche Nahrung zu berühren. Aber schließlich gaben wir einem Bedürfnis nach, das stärker war als jede Menschlichkeit. Wir sahen in dieser grässlichen Mahlzeit das einzige bedauerliche Mittel, unsere Existenz zu verlängern."

Nach einer Woche waren nur noch 28 Personen am Leben. Savigny schrieb später: "Von dieser Zahl schienen nur 15 imstande, einige Tage weiterzuexistieren, alle anderen waren mit schweren Wunden bedeckt und hatten ihren Verstand völlig verloren. Nach einer langen Beratung beschlossen wir, sie ins Meer zu werfen." Savigny nahm die Auswahl der Opfer vor und schrieb später eine Doktorarbeit über "Die Wirkung von Hunger und Durst bei Schiffbrüchigen".

Nach 13 Tagen wurde die Floßinsassen durch die Brigg Argus geborgen. Von den 15 Geretteten starben fünf bereits an Bord der Argus, weil sie zu schnell zu viel Nahrung zu sich nahmen.

Der Fall wurde zunächst nicht an die Öffentlichkeit getragen, bis im Herbst 1817 ein Bericht von zwei Überlebenden erschien, Henri Savigny und Alexandre Corréard. Mit ihrem Bericht wollten Savigny und Corréard eine Entschädigung der Opfer erreichen, stattdessen wurden sie aus dem Staatsdienst entlassen und mit Strafgeldern sowie einer Gefängnisstrafe belegt. Die Affäre ließ sich jedoch nicht mehr vertuschen; französische Zeitungen befassten sich monatelang mit dem Thema. Unter dem Druck der Presse und der Öffentlichkeit wurden schließlich der zuständige Minister und 200 Marineoffiziere entlassen.

Unter dem Eindruck dieses Skandals nahm sich der französische Maler Théodore Géricault kurz darauf dem Thema an. In einer anderthalbjährigen Recherchephase befragte er Corréard und Savigny, ließ sich ein Modellfloß bauen und beschaffte sich sogar Leichenteile in verschiedenen Verwesungsstadien. Lange schwankte er zwischen verschiedenen Szenerien, bis er sich schließlich für den Moment entschied, in dem die Argus (nachdem sie zunächst abgedreht hatte) erneut am Horizont erscheint. In den Gesichtern der Schiffbrüchigen lesen sich Angst, Freude, Enttäuschung und Resignation.

Obwohl Géricault alle Informationen für ein realistisches Zeugnis gesammelt hatte, führte er dieses nie aus. Das Endresultat ist idealisiert - die Schiffbrüchigen sind nicht abgezehrt genug, die Leichen nicht authentisch dargestellt; zudem wählte Géricault zeitlose Kostüme. Auch das dramatisch-stürmische Wetter entspricht nicht den historischen Fakten, denn in Wahrheit herrschte schönster Sonnenschein. Mit der sich aus der Aufgipfelung der Schiffbrüchigen ergebenden Pyramidenform wählte Géricault eine gewollt klassische Kompositionsform. Tatsächlich war seine Ziel nicht eine realistische Darstellung, sondern eine kunstvoll aufgebaute Monumentalität.

Géricault stellte "Das Floß der Medusa" im Pariser Salon von 1819 aus, wo es unter dem weniger verfänglichen Titel "Schiffbruchszene" geführt wurde. Dennoch erinnerten sich die Besucher sehr wohl an den realen Anlass der Szene und reagierten zumeist wenig begeistert. Der Salon sollte in diesem Jahr vor allem Stabilität und Prosperität der Nation unter den 1814 auf den Thron zurückgekehrten Bourbonen demonstrieren. Inmitten der Regime und Kirche huldigenden Kunstwerke nahm sich Géricaults "Floß der Medusa" hingegen als offene Provokation aus, die an einen Skandal erinnerte, den die Regierung lieber vertuscht hätte.

aw