|  In besagtem Märchen, das auf Apuleius zurückgeht, ist Psyche  eine Königstochter von so strahlender Schönheit, dass sie den Neid der Liebesgöttin Venus erweckt. Venus befiehlt daher ihrem Sohn Amor,  Psyche dazu zu bringen, sich in einen schlechten Mann zu verlieben.  Als Psyche  mit einem Dämon verheiratet werden soll, wird sie von Amor, der sich insgeheim in sie verliebt hat, gerettet und  in einen Palast gebracht. Dort hält er sie gefangen und besucht  sie Nacht für Nacht in der schützenden Dunkelheit, ohne dass  sie je sein Äußeres erblicken würde.
 Psyche wird von Amor schwanger, gelangt aber zu dem Glauben, er wäre ein Monster. Als sie ihn eines Nachts   zu töten versucht,  erblickt sie ihn, die Öllampe in der Hand, zum ersten Mal bei Licht. Sofort verliebt sie sich  unsterblich in ihn. Amor aber ist über den Angriff empört und zieht sich zurück. Psyche muss viele schwere Prüfungen überstehen, in die die  immer noch missgünstige Venus sie verstrickt. Am Ende fällt Psyche in einen todesähnlichen Schlaf, aus dem sie von Amor erweckt wird. Jupiter gibt dem Paar die Erlaubnis zu heiraten und macht Psyche unsterblich. Davids Bild zeigt, wie Amor sich bei Tagesanbruch  gerade aus der gemeinsamen Schlafstätte schleichen will. Neben ihm schlummert Psyche, noch nicht zur Revolte entschlossen. Statt der sonst üblichen Darstellung in Unschuld und Schönheit zeigt David Amor als  selbstzufriedenen, erbarmungslosen Gott, dessen vulgäres Grinsen  im Kontrast zu der sinnlichen und zugleich verletztlichen Schönheit  Psyches steht.  Amors Körper ist in einer ungelenken Verdrehung begriffen; er hat plumpe Hände, ein unreifes Äußeres. Zudem  wirkt er auf geradezu komische Weise ungeschickt: Sein Fuß  hat sich im Bettzeug verfangen, und  beim Aufstehen müsste er sich fast den Flügel ausreißen. Dem eckigen, 
          grobschlächtigen Amor steht die  Rundheit und Weichheit von Psyches  Konturen gegenüber. Auch in der Farbigkeit ist ein  Kontrast zwischen der bäuerisch gebräunten Haut Amors und dem  vornehm hellen Teint Psyches zu bemerken. Das Bett, das fast den ganzen Bildraum einnimt, ist für zwei Personen viel zu  eng; Wände und Boden sind schmutzig dunkel. Der ganze Raum wirkt klaustrophobisch und bedrückend, so dass der Schauplatz  eher einem Gefängnis als einem Palast gleicht.  Insgesamt thematisiert Davids Bild in der Gegenüberstellung des unflätigen Amors und der zarten Psyche, eingepfercht in einen klaustrophobischen Raum, vor allem das Gefühl des Ausgeliefertseins  - zunächst rein physisch, da Amor Psyche gefangenhält, bald aber auch psychisch, da sie sich in ihren Entführer verlieben wird.  David  wartet also mit einer eigenen Interpretation des antiken Märchens auf, die sich nicht an ein verklärtes  Bild des schönen Liebesgottes hält, sondern ihn von seiner düsteren Seite zeigt. aw
 Abbildung: Jacques-Louis David (1748-1825), „Amor und Psyche“ (1817), Öl auf Leinwand, 184 x 242 cm, Museum of Art, Cleveland.
 
 
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