APRIL
2004

 
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KUNST


Über die Grenzen von Kunst und Literatur: Lessings "Laokoon"


Abb.: Lessing, Werke, Band 2 von 3
Artemis & Winkler 2001

Die Zitate stammen aus folgender Ausgabe:

Gotthold Ephraim Lessing
Laokoon - oder über die Grenzen der Malerei und Poesie
hg. v. Kurt Wölfel
Insel Taschenbuch 1988

Im Jahr 1766 veröffentlicht Gotthold Ephraim Lessing eine Abhandlung, in der er die Unterschiede zwischen bildender Kunst und Literatur definiert: Laokoon - oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Lessing stellt damit eine lange Tradition in Frage, während derer Malerei und Dichtung gleichgestellt wurden.

Schon im 6. Jahrhundert vor Christus bezeichnet Simonides die Poesie als redende Malerei, die Malerei als stumme Poesie. Zu großer Berühmtheit gelangt jedoch eine Formel, die Horaz in seiner Ars poetica verwendet: ut pictura poesis - "wie in der Malerei, so in der Dichtung". Ursprünglich besagt die betroffene Passage lediglich, dass Dichtungen genau wie Gemälde von nahem oder von ferne, im Dunkeln oder bei Licht gesehen werden wollen, dass sie nur einmal oder mehrmals gefallen können. Absicht dieses Vergleichs ist es, die Wirkung von Dichtungen zu verdeutlichen. Seit der Renaissance wird die Formel jedoch als eine Gleichsetzung von Poesie und Malerei begriffen. Dies bedeutet allerdings auch, dass die Malerei ihrer Autonomie beraubt wird: Ihre Inspirationsquellen und ihre Rechtfertigung muss sie aus der Literatur ziehen. Die Künstler fügen sich der Autorität der Literatur und behandeln allegorische, biblische, mythologische und historische Themen.

Im 18. Jahrhundert kommen jedoch auch erste Reflexionen über die Unterschiede zwischen Dichtung und Malerei auf. Demnach verwendet die Dichtung willkürliche, sukzessive Zeichen, während das Gemälde natürliche, simultane Zeichen nutzt. Dies wird 1766 in bahnbrechender Art und Weise von Lessing aufgenommen, der in seinem Laokoon einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Künsten proklamiert: "die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers" (119). Die Malerei, so Lessing, beschäftigt sich mit Figuren und Farben im Raum, wohingegen es sich bei der Poesie um artikulierte Töne in der Zeit handelt. Nur die Malerei erreicht dabei eine Einheit und Kohärenz, die der Betrachter augenblicklich und ohne Probleme zu erfassen vermag. Die Sprache hingegen kann die Dinge nur sukzessive darstellen. Dies bedeutet bei Lessing einen klaren Vorteil für die bildende Kunst:

"Dem Auge bleiben die betrachteten Teile beständig gegenwärtig (...): für das Ohr hingegen sind die vernommenen Teile verloren, wann sie nicht in dem Gedächtnisse zurückbleiben. Und bleiben sie schon zurück: welche Mühe, welche Anstrengung kostet es, ihre Eindrücke alle in eben der Ordnung so lebhaft zu erneuern, (...) um zu einem etwanigen Begriffe des Ganzen zu gelangen" (113-114)!

Gegen die Trennung der Künste in Raum- und Zeitkünste lassen sich allerdings auch Gegenargumente finden. Schließlich bedeutet die Simultaneität eines Bildes nicht, dass der Betrachter das Dargestellte auch gleichzeitig wahrnimmt. Es ist zum Beispiel unmöglich, das Getümmel eines Schlachtengemäldes mit einem einzigen Blick zu erfassen. Der erste Blick erkennt vielleicht das Ganze, nicht aber die Details der Darstellung, welche erst nach und nach wahrgenommen werden. Damit hat auch die räumliche Bild-Erfahrung eine zeitliche Struktur. Auf der anderen Seite hat man nach der Lektüre eines Textes seinen Sinn und Zusammenhang als Ganzes vor Augen und kann sich daher ein simultanes Bild machen.

Für Lessing jedoch bedeutet jeder Versuch, die Grenzen der Künste zu überschreiten, einen Verstoß gegen den guten Geschmack:

"Zwei notwendig entfernte Zeitpunkte in ein und ebenddasselbe Gemälde bringen (...): heißt ein Eingriff des Malers in das Gebiete des Dichters, den der gute Geschmack nie billigen wird. Mehrere Teile oder Dinge, die ich notwendig in der Natur auf einmal übersehen muß, wenn sie ein Ganzes hervorbringen sollen; dem Leser nach und nach zuzuzählen, um ihm dadurch ein Bild von dem Ganzen machen zu wollen: heißt ein Eingriff des Dichters in das Gebiete des Malers, wobei der Dichter viel Imagination ohne allen Nutzen verschwendet" (119-120).

Trotz ihrer Begrenzungen hat Lessings These die Diskussion über die Unterschiede von Literatur und Malerei nachhaltig geprägt. Von einer Gleichsetzung der Künste im Sinne der Ut-pictura-poesis-Formel geht man nicht mehr aus.

aw