OKTOBER
2002

 
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LITERATUR


Paul Auster: "Das Buch der Illusionen"
 

„Das Buch der Illusionen“, Paul Austers neuer Roman, zeigt am Beispiel eines vergessenen Stummfilmkomikers und dessen Wiederentdeckung durch einen lebensmüden Literaturprofessor die multiple Aufspaltung einer Persönlichkeit, die letztendlich zum völligen Identitätsverlust führt.

David Zimmer lebt das ruhige Leben eines typischen amerikanischen Ostküsten-Intellektuellen: er lehrt Literatur an einem renommierten College in Vermont, veröffentlicht literaturwissenschaftliche Essays, übersetzt aus dem Französischen und lebt mit seiner Frau Helen und seinen zwei Söhnen in einem hübschen Haus in der Nähe des Campus. - Bis Helen und die Jungen bei einem Flugzeugabsturz getötet werden. David trauert. Er spielt mit den Spielsachen seiner Söhne, versprüht das Parfum seiner Frau, trinkt unmäßig und betäubt sich mit Dauerberieselung durch den Fernseher. Eines Nachts sieht er eine Reportage über Stummfilme. Eine Slapstickszene des nahezu vergessenen Hector Mann bringt David zum Lachen. Dieses unvermutete Gelächter rettet ihm das Leben - statt sich zu Tode zu saufen, stürzt er sich in Arbeit, er beginnt über Hector Mann zu recherchieren. Mann verschwand im Januar 1929 spurlos, nach einer kurzen Hollywoodkarriere. Zurück blieben nur zwölf Kurzfilme. David sieht sich alle erhaltenen Filme Manns in verschiedenen Filminstituten in den USA und in Europa an und schreibt eine über dreihundert Seiten umfassende Analyse von Hector Manns Werk. Das Buch entwickelt nach der Veröffentlichung eine Eigendynamik. David erhält kryptische Briefe von einer Farm in New Mexico. Er ist längst mit der Übersetzung von Chateaubriands „Erinnerungen eines Toten“ beschäftigt, als ihn eines Nachts eine mysteriöse junge Frau besucht, die ihn mit vorgehaltener Waffe zu einer Reise nach New Mexico zwingt.

Die junge Frau stellt sich als Alma Grund vor - Hector Manns Biografin. Sie erklärt, Mann habe seit seinem Verschwinden in New Mexico gelebt und dort experimentelle Filme gedreht. Der hochbetagte Filmemacher ruft David zu seinem Totenbett und gibt ihm die Erlaubnis, die Filme zu sehen, die sofort nach Manns Tod von dessen Ehefrau Frieda vernichtet werden sollen. Alma erzählt David auf dem Weg nach New Mexico Hector Manns Lebensgeschichte. Mann legte sich, durch seine Mitschuld am Tod einer jungen Frau, die Strafe auf, keine Filme mehr zu machen. Er nahm eine andere Identität an, lebte von der Hand in den Mund, ließ seinen Weg vom Zufall bestimmen - bis er bei einem Banküberfall die Gelegenheit bekam, Frieda Spelling, seiner späteren Frau, das Leben zu retten. Die alte Schuld schien beglichen. Mit Frieda zog er in die Wüste New Mexicos und begann wieder Filme zu drehen, machte es sich aber selbst zur Bedingung, daß sie nie an die Öffentlichkeit gelangen sollten.

David bekommt die Möglichkeit zu einem kurzen Gespräch mit Hector Mann. Der Filmemacher stirbt in der gleichen Nacht. Frieda beginnt unverzüglich mit der Vernichtung des Werks. David bleibt nur Zeit, einen Film zu sehen. Frieda nimmt ihren bildstürmerischen Auftrag ernst. Die Mitwisser Alma und David werden ihr zum Hindernis und zur Bedrohung.

Mit David Zimmer griff Paul Auster eine Nebenfigur aus „Mond über Manhattan“ auf. Er machte M.S. Foggs gutmütigen, liebeskranken Freund zu einem gleichgültigen Helden - zu einem Mann, für den nichts mehr auf dem Spiel steht, weil er bereits alles verloren hat. Die negierende Gelassenheit Zimmers spiegelt sich in Hector Manns zufallsgesteuerter Odyssee wieder. Auster stellte dem Roman ein Wort Chateaubriands voran: „Der Mensch hat nicht nur ein Leben. Er hat viele Leben, eins am anderen, und das ist die Ursache seines Unglücks.“ - und benennt damit das Thema seines Buches: die multiple Aufspaltung einer Persönlichkeit, die zum völligen Identitätsverlust führt - das Leben als Maskerade, als Hollywood-Slapstickkomödie, als tragikkomische Illusion. Die Figuren erfinden sich selbst neu, verstricken und verlieren sich in ihren selbstgeschaffenen Lügen. Auster führt die unendliche Regenerationsfähigkeit des menschlichen Egos vor - die letztlich ins Leere läuft.

„Das Buch der Illusionen“ ist ein feines Gewebe aus Autoreferentialität, Intertextualität und Intermedialität, das viele Merkmale des Austerschen Koordinatensystems aufweist: der Zufall als entscheidendes Moment, atmosphärische Anlehnung an die Films Noirs und an die amerikanischen hardboiled-Krimis, Anspielungen auf amerikanische und europäische Literaturklassiker, die Verbindung von philosophischer Reflexion und spannungsreicher Handlung. Auch das Motiv der Stummfilme weist Bezüge zu Paul Austers Vergangenheit auf. Als Student in Paris beschäftigte sich Auster eingehend mit dem Medium Film und spielte sogar eine zeitlang mit dem Gedanken, Filmwissenschaft zu studieren. Er verfaßte ein von Buster Keaton inspiriertes Drehbuch für einen Stummfilm - das er nie realisieren konnte und irgendwann verlor.

Paul Auster hat mit einigen seiner früheren Prosaarbeiten einen Maßstab gesetzt, den er manchmal selbst nicht erreichen kann. „Das Buch der Illusionen“ besitzt weder die existentielle Wucht von „Die Erfindung der Einsamkeit“, noch die raffinierte Doppelbödigkeit der „New York Trilogie“ oder die Tiefe und die präzise Figurenzeichnung von „Leviathan“. Die Binnenerzählung über Hector Manns Leben nach Ende seiner Hollywoodkarriere hat ihre Längen. Werner Schmitz’ gelegentlich unsaubere Übersetzung ins Deutsche mindert das Lesevergnügen etwas. Die Beschreibungen der Filme Hector Manns sind jedoch Höhepunkte des Buches - in denen Austers grotesker Sinn für Humor durchscheint. Die äußerst gelungene Figur der resoluten Frieda ruft Austers starke Frauenfiguren in Erinnerung - wie Mrs. Witherspoon in „Mr. Vertigo“ oder Maria Turner, Lily Stern und Fanny Sachs in „Leviathan“.

Mit dem Element der Filmzerstörung greift Paul Auster auch ein Thema auf, das ihn persönlich betrifft: wie viel Öffentlichkeit braucht die Kunst? Auster, einer der wichtigsten und talentiertesten Vertreter der zeitgenössischen amerikanischen Literatur, erlangte in den 90er Jahren durch den Erfolg der „New York Trilogie“ enorme Popularität. Seitdem befindet er sich in einem Spannungsfeld aus Heldenverehrung, Publikumserwartungen und Verlagsvorgaben. Manchmal entstehen aus dieser Spannung erschütternde Meisterwerke, manchmal einfach nur gute Bücher.

vh