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LITERATUR


Bruce Chatwin � der extravagante Asket
Nicholas Shakespeare
�Bruce Chatwin. Eine Biographie�
Kindler, 2000
 

Das Mandarin-Wort für Schriftsteller bedeutet auch „der, der zu Hause arbeitet“. Häufig ein zutreffendes Synonym, denn wie Kafka schrieb: „Das Dasein des Schriftstellers ist wirklich vom Schreibtisch abhängig, er darf sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen will, niemals vom Schreibtisch entfernen, mit den Zähnen muß er sich festhalten.“ Manche Literaten wurden gerade von ihrem Schreibtisch in die Schreibblockade getrieben. Sie gewannen den Kampf gegen das leere Blatt nur auf Reisen, in schäbigen Hotelzimmern, in Cafés, in den Häusern von Freunden. Zu dieser Gruppe zählen Hemingway, London, Dostojewski, Rimbaud – und Bruce Chatwin.

Seit Chatwins Tod, 1989, hat Nicholas Shakespeare an einer umfassenden Biographie über das Idol aller Rucksacktouristen gearbeitet. Er reiste auf den Spuren des Schriftstellers, befragte Chatwins Familie und zahlreiche Freunde. Auf über 800 Seiten versucht Shakespeare, das Chamäleon Chatwin mit all seinen Widersprüchen darzustellen.

Bruce Chatwin war ein extravaganter Asket, ein geselliger Einzelgänger, ein kapitalistischer Labour-Wähler, ein verheirateter Homosexueller, ein Anglikaner, der sich der griechisch-orthodoxen Kirche zuwandte, ein Sammler, der Besitz verachtete.
Er war Engländer. – Und er haßte es, Engländer zu sein. Chatwin vertrat die These, daß das britische Empire von Menschen gegründet wurde, denen es in England zu langweilig und zu eng war.

Shakespeare beschreibt das altkluge Kind Charles Bruce Chatwin, den schauspielerisch begabten Schüler, den jungen Kunsthändler bei „Sotheby's“, den Archäologiestudenten in Edinburgh und dessen Umwege zur Literatur. Chatwin, der schon in jungen Jahren viel reiste, plante ein Buch über die Lebensweise der Nomaden. Im Schreiben schien er seine Berufung gefunden zu haben. „Während ich die Sätze aneinanderreihte, dachte ich, das Erzählen von Geschichten sei die einzig denkbare Beschäftigung für eine überflüssige Person wie mich,“ bekannte er. In einem seiner legendären Moleskin-Notizbücher, die er auf Reisen immer bei sich trug, hielt er fest: „Der Mensch ist ein sprechendes Tier, ein Geschichten erzählendes Tier. Ich würde gern glauben, daß er sich durch sein Erzählen vor der Ausrottung gerettet hat und daß darin der Sinn des Erzählens liegt.“

Das Nomadenbuch scheiterte. Der Verleger Tom Maschler fand Chatwins Thesen zu verworren, zu vage. Nachdem sein Buch abgelehnt war, reiste er drei Monate durch Niger, Dahomey und Kamerun, wo er einen Kurzfilm über Nomaden drehte. Auch der Film ließ sich nicht verkaufen, weil er zu unprofessionell war. Chatwin versank in Depressionen. Er verbrachte einige Zeit in dem Haus des Regisseurs James Ivory in Oregon. Als er nach England zurück kehrte, nahm er eine Stelle als Kunstberater des Magazins der „Sunday Times“ an. Bald schrieb er eigene Artikel – meistens Porträts, zum Beispiel der Modeschöpferin Madeleine Vionnet, der Malerin Sonia Delaunay oder der Designerin Eileen Gray. Er interviewte Ernst Jünger, André Malraux und Indira Gandhi.

An eine feste Stelle gebunden zu sein, machte Chatwin auf die Dauer nervös. Als sich die Arbeitsbedingungen bei der „Sunday Times“ unter einem neuen Chefredakteur verschlechterten, ging er. Die Legende besagt, daß er einfach ein Telegramm an die Redaktion schickte: „Für vier Monate fort nach Patagonien.“ Ein Freund bestätigte, daß Chatwin gerne plötzlich verschwand wie Chesire Cat und genauso plötzlich wieder auftauchte.

Mit der Reise nach Patagonien erfüllte er sich eine Kindheitstraum. Ein Großonkel Chatwins, der Seemann Charles Milward, hatte sich Ende des 19. Jahrhunderts in Patagonien niedergelassen. Milward war dabei, als in einer Höhle Fossilien gefunden wurden, die zuerst für die Überreste eines Brontosaurus gehalten wurde. Es stellte sich jedoch heraus, daß es sich um ein Mylodon, ein Riesenfaultier, handelte. Milward schickte ein Stück des Fells nach England als Hochzeitsgeschenk für Chatwins Großmutter. Isobel Chatwin bewahrte das rotbraune Fell in einer Vitrine neben anderen Kuriositäten auf. Der kleine Bruce bewunderte es sehr. Er sagte, nie habe er sich etwas so sehr gewünscht, wie dieses Stück Fell. Es war sein Fetisch. Leider ging es bei einem Umzug verloren. Auf seiner Reise besuchte Chatwin die Mylodon-Höhle, wandelte auf Charles Milwards Spuren – es war seine Suche nach der verlorenen Zeit, eine Hommage an seine Kindheit.

Patagonien ist eine schwer abgrenzbare Region auf dem Staatsterritorium von Argentinien und Chile. Im 19. Jahrhundert wanderten Engländer, Waliser, Schotten, Deutsche und Buren in das rauhe Land ein. Der Schriftsteller Chatwin stieß dort auf einen Fundus an Geschichten. Patagonien ermöglichte ihm, über die Themen zu schreiben, die ihn am meisten interessierten – Emigration und Exil, Abenteuer, Aufbruch und Angst. So entstand „In Patagonien“ - das Buch, das ihm zu Weltruhm verhalf.

Bruce Chatwin arbeitete bald an einem neuen Projekt: „Der Vizekönig von Ouidah“ – die Geschichte eines portugiesischen Sklavenhändlers an der Sklavenküste von Dahomey. Das Buch wurde später von Werner Herzog verfilmt. Auch David Bowie hatte sich für die Filmrechte interessiert. Als nächstes erschien der Roman „Auf dem schwarzen Berg“, der von einem walisischen Zwillingspaar handelte. Auf einer Reise durch Australien sammelte er Material für „Traumpfade“, in das er Elemente aus dem gescheiterten Nomadenbuch verarbeitete. In „Utz“ beschrieb er einen Prager Porzellansammler und dessen Gier, Schönes zu besitzen. Chatwin arbeitete am liebsten in den Häusern von Freunden – häufig in Wales, Italien oder Griechenland. Seine Gastgeber ärgerten sich oft über seine endlosen Monologe und über seine furchtbaren Manieren. Sie nahmen ihn aber dennoch immer wieder auf. „Er war sehr kindlich und mußte versorgt werden. Das gefällt den Leuten. Jedenfalls mir,“ sagte Diana Melly, eine seiner Gönnerinnen.

Chatwin erreichte mit seinen Büchern schnell große Popularität, lernte interessante Menschen kennen – was seine ohnehin schon vorhandenen Anlagen zum Snobismus verstärkte. Zeitweise schien er ein Jet-set-Literat à la Truman Capote zu werden, der das „Namedropping“ perfektionierte. „Bruce, kennst du eigentlich jemanden, der nicht berühmt ist?“ schrie ihn einmal sein Freund Salman Rushdie an. Rushdie selbst wurde 1989 durch die Fatwa berühmt, von der er am Tag von Bruce Chatwins Beerdigung erfuhr.

So groß Chatwins Bedürfnis nach Gesellschaft – nach Publikum – war, so groß war auch sein Wunsch nach Einsamkeit, der ihn immer wieder auf Reisen trieb. „Er war einsam und er wollte es sein. Er hatte blaue, unerbittliche Augen, die ausdrückten: ‚Ich werde dich vergessen, ich werde dich zurückweisen, weil weder du noch irgendein anderes menschliches Wesen mir geben kann, was ich haben will,“ berichtete der australische Dichter Les Murray.

Seine Reisen machte er aber selten alleine. Meistens wurde er von Freunden und Schriftstellerkollegen begleitet – oder von seiner Ehefrau Elizabeth. Die komplizierte Beziehung zu Elizabeth analysiert Nicholas Shakespeare ausführlich. Elizabeth war Chatwins Vertraute, seine Beschützerin, seine Penelope, zu der er zurückkehren konnte, egal was passierte. In den letzten Jahren war sie auch Krankenschwester für den HIV-positiven Schriftsteller.

Den Mythos vom asketischen Reisenden relativiert der Schriftsteller Murray Bail, der mit Chatwin durch Indien reiste. Er behauptete, Chatwins Gepäck habe in seinem Volumen dem der Garbo geglichen. Chatwin hatte vierzig Kilo Übergepäck an Büchern. Dazu kamen seine Schreibmaschine, etliche Karteikarten, Champagner, Müsli – eine Spezialmischung von Elizabeth, die er auf jeder Reise dabei hatte –, ein Sammelsurium an Tabletten und seine extravagante Garderobe. „Seine Gepäckmenge war wirklich kolossal. Wir brauchten einen Chauffeur,“ erzählte Bail.

Nach über 800 Seiten kennt man Details aus Bruce Chatwins Leben. Man hat einige unvergeßliche Anekdoten gelesen. Nicholas Shakespeares Buch beeindruckt schon allein durch seine Genauigkeit und den großen Rechercheaufwand. Niemand, der sich für Bruce Chatwin interessiert, wird an diesem Buch vorbeikommen.

Chatwin bleibt aber auch nach 800 Seiten ein Phantom. Seine Persönlichkeit erscheint nicht weniger nebulös und vage. Er war amüsant und anstrengend, exzentrisch und eitel, liebenswert und lächerlich, zerbrechlich und zerstörend.

vh