JULI
2002

 
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LITERATUR


Katherine Anne Porter, "Das Narrenschiff"
Katherine Anne Porter
"Das Narrenschiff"
Rowohlt, 1963

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August, 1931: Der deutsche Frachter "Vera" fährt vom mexikanischen Vera Cruz nach Bremerhaven - an Bord eine illustre Reisegesellschaft aus Deutschen, Amerikanern, Schweden, Schweizern, Spaniern, Kubanern und Mexikanern. In 27 Tagen auf See wird das Schiff zu einem Mikrokosmos, der von einer explosiven Mischung aus Intoleranz und Torheit, Hochmut, Borniertheit und fatalem Rassismus ständig bedroht ist.

Katherine Anne Porter fuhr wie ihre fiktiven Gestalten 1931 mit dem Schiff nach Europa. Im Sommer 1932 las sie in Basel Sebastian Brants "Das Narrenschiff", das 1494 in lateinischer Sprache unter dem Titel "Stultifera Navis" erschien. Von Brant übernahm sie sowohl den Titel, als auch das archetypische Bild der Schiffsreise als Lebensreise. In einem Interview mit der "Paris Review" erklärte sie: "Das menschliche Leben selbst ist ein einziges Chaos. Jeder behauptet seinen Platz, besteht auf seinen Rechten und Gefühlen, mißversteht die Motive der anderen und seine eigenen. Niemand weiß vorher, wie das Leben, das er führt, endet, auch ich nicht - vergessen sie nicht, daß auch ich ein Passagier auf diesem Schiff bin. Es sind keineswegs nur die anderen, die die Narren abgeben! Mangel an Verständnis und Isolierung sind die natürlichen Lebensbedingungen des Menschen. Wir sind alle Passagiere auf diesem Schiff, doch wenn es ankommt ist jeder allein."

Porter begann 1941 mit der Niederschrift des Buches und schloß es 1961 ab. Es wurde umgehend ein Erfolg - wozu auch Stanley Kramers Verfilmung beitrug, in der eine internationale Besetzung um Vivien Leigh, Heinz Rühmann, Simone Signoret, José Ferrer und Oscar Werner agierte. Porter setzte die moderne Variante eines archtypischen Themas mit den Mitteln des modernen Romans um: Multiperspektivismus, Bewußtseinsstrom, erlebte Rede. Sie zeichnete eindringliche Psychogramme der Passagiere, die zwar als Typen angelegt, überzeichnet, aber dennoch ausgesprochen realistisch sind. Sie entlarvte die Dünkelhaftigkeit der Emporkömmlinge, Rassismus, der sowohl auf notorischen Minderwertigkeitsgefühlen, als auch auf pseudo-wissenschaftlichen Thesen beruht, die dünne Deckschicht der bürgerlichen Konvention, hinter der sich Bestialität oder völlige Leere verbirgt.

Porters Figuren sind nie eindimensional. Selbst die Figuren, die als Sympathieträger angelegt sind, bleiben ambivalent. Die jungen amerikanischen Maler David Scott und Jenny Brown, beide Stimmen der Vernunft, sind durch eine Haßliebe miteinander verbunden. David wollte ursprünglich nach Spanien fahren, Jenny nach Paris. Als sie sich gar nicht einigen konnten, wählten sie Deutschland als Reiseziel - das keinen von beiden interessierte. Die ganze Überfahrt quälen sie einander mit sadistischer Grausamkeit und sezieren ihre Beziehungsprobleme. Mrs. Treadwell, eine distinguierte geschiedene Amerikanerin, steht dem närrischen Treiben auf dem Schiff gleichgültig gegenüber und hat für alle Passagiere nur Verachtung übrig. Wilhelm Freytag, ein alleinreisender deutscher Geschäftsmann, wird zum Verfechter des aufgeklärten Humanismus, weil er eine Jüdin geheiratet hat. Er unterscheidet jedoch reiche und arme Juden, gebildete und ungebildete Juden, gute und schlechte Juden. Er ist durchaus kein Gegner des Antisemitismus, nur fordert er für seine Frau eine Ausnahme, weil er sie liebt. Daß er durch seine Heirat von bestimmten gesellschaftlichen Schichten ausgestoßen wurde und ihm bestimmte Privilegien verwehrt werden, verwindet er nicht. Während der ganzen Reise spielt der angeblich treue Ehemann mit den Gedanken an eine Affäre mit Jenny oder Mrs. Treadwell, die ihn beide abwechselnd anziehen und abstoßen. Um diese mehr oder weniger positiven Figuren sind Vertreter aller denkbaren "Ismen" gruppiert - und Menschen, die weder die Kraft noch die Einsicht haben, sich der ideologischen Beeinflussung zu entziehen.

Am Ende gehen die Narren von Bord - unbelehrbar, jeder seinem Weltbild verhaftet, nur mit ein paar Blessuren und ein paar Narben mehr.

vh


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Katherine Anne Porter: Ship of Fools

August 1931, the German ship "Vera" travels between Vera Cruz in Mexico and Bremerhaven in Germany. On board, there is a mixed group of passengers composed of Germans, Americans, Swedes, Swiss, Spanish, Cubans and Mexicans. During the 27 days at sea, the ship becomes a fragile microcosm threatened by an explosive melange of intolerance, foolishness, arrogance, narrow-minded thinking and fatal racism.

Katherine Anne Porter travelled in 1931 to Europe by ship - just like her fictional characters. In Basle, she read "Ship of Fools" by Sebastian Brant, first published in 1494 in Latin under the title "Stultifera Navis". From Brant's book, Porter took over both the title and the archetypal theme of a voyage as the journey through life. The effect of Porter's modern version is accomplished by the methods of modern prose: multi-perspectivism, stream of consciousness, free indirect speech. Her characters are always many-sided. Even the more positive characters - the young American painters David Scott and Jenny Brown, Mrs. Treadwell or Wilhelm Freytag - always remain ambivalent.

Katherine Anne Porter started to write "Ship of Fools" in 1941 and finished it in 1961. The book was a huge success - also due to Stanley Kramer's film version starring an international cast including Vivien Leigh, Heinz Rühmann, Simone Signoret, José Ferrer and Oscar Werner.

vh