Die Bibel unserer Kindheit, 
            ein Buch über wahre Freundschaft und Mut, eine Gebrauchsanweisung 
            für alle Schatzsuchenden, eine Lektüre voll nützlicher 
            Kenntnisse, wie die Kunst des Warzenentfernens oder Pfeiferauchens: 
            Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Mark Twains literarische Söhne. 
            Heute haben Kinder andere Buchgestalten, zu denen sie aufblicken. 
            Derjenige, der sich dabei am meisten durchgesetzt hat, kommt aus einer 
            anderen Welt.
            
            Erinnern wir uns doch an die gemütlichen Stunden vor dem Einschlafen, 
            als wir atemlos, den Blick starr auf den Mund unseres Vaters gerichtet, 
            den Abenteuern des Schatzsuchers Thomas Sawyer lauschten.
            
            "Schau deine Hände an und deinen Mund. Was ist das? - Bei 
            Gott, ich weiß es nicht, Tante! - Aber 'ich' weiß es, 
            's ist Marmelade. Wie oft habe ich dir gesagt, wenn du über die 
            Marmelade gingest, würde ich dich bläuen. Gib mir den Stock 
            her!" Der Stock zitterte in ihren Händen. Die Gefahr war 
            dringend. - Holla, Tante, sie dich mal schnell um!" 
            Ich konnte diese Sätze nicht oft genug lesen. Tom Sawyer, der 
            romantische Liebhaber ("Hast du Ratten gern?" fragte er 
            Becky), der Kenner der Magie ("Sag - was machst du mit der toten 
            Katze?" "Was? Warzen heilen." "So. Wirklich? Ich 
            weiß was Besseres." "Wird was sein! Was 'ist's' denn?" 
            "Na - faules Wasser!"), der erfolgreiche Schatzsucher, der 
            mutige Held und wahre Freund, der Beschützer in Not
 der 
            Schuldtragende, wenn kleine Burschen ihre Gärten umgruben, ihren 
            Tanten mangelnden Respekt erwiesen und um zwölf Uhr nachts versuchten, 
            auf schaurigen Friedhöfen ihre Warzen wegzuzaubern.
            
            Für mich war er DAS Idol, jemand, mit dem ich sofort meinen Kaugummi 
            geteilt hätte ("Du kannst ihn 'ne Weile kriegen, aber dann 
            musst du ihn mir wiedergeben!" Und dann kauten sie Gummi und 
            stemmten die Knie gegen die Bank und waren seelenvergnügt). Denn 
            kann man einem Jungen widerstehen, der beim ersten Rendezvous einen 
            Eroberungstanz vollführt? Oder seiner Liebe das Leben rettet, 
            indem er sie aus einem unheimlichen Labyrinth führt, seine eigene 
            Angst verbergend, um sie nicht noch mehr zu verunsichern? Ach
 
            diese Tapferkeit, dieser Edelmut! Für mich stand jedenfalls im 
            Alter von 8 Jahren fest: Mein zukünftiger Ehemann würde 
            einen Lockenkopf haben, hauptberuflich Pirat sein und barfüßig 
            durchs Leben gehen.
            
            Wenn ich heute jedoch Harry Potter von J.K. Rowling lese, so kann 
            ich verstehen, wieso Onkel Twains Tom die Kinder nicht anspricht. 
            Schließlich wurde die Steinschleuder durch einen Zauberstab 
            ersetzt. Einen Zauberstab! Ein Aufstieg wie vom Unkraut zur Rose! 
            Und wen interessiert schon der Meister der Kriegsführung, wenn 
            man mit größerer Spannung ein interessantes Quidditchmatch 
            verfolgen kann? Und was für ein Gegner ist schon Indianer Joe 
            im Vergleich zu Lord Voldemort, der Verkörperung des Bösen? 
            Na ja, und dann noch die Tatsache, dass selbst Nabokov Harry Potter 
            gemocht hätte
            
            Dennoch hat Tom viele Eigenschaften, zu denen Harry Potter nicht einmal 
            magische Kräfte verhelfen: sein Witz, seine Überzeugungskraft 
            (wer schafft es schon, seinen Freunden einzureden, dass das Streichen 
            von Zäunen zu den höchsten Künsten zählt?), die 
            unschuldigen Frechheiten, mit denen er bei jeder Gelegenheit seine 
            Tante aufzieht, und - nicht zu vergessen - sein herausragendes Zeichentalent
            
            Für mich wird Tom immer die Nummer 1 unter den literarischen 
            Buben sein, möge die Welt der Kinderliteratur noch so außergewöhnliche 
            Talente hervorbringen. Denn: Kein Kampf mit Lord Voldemort ist beeindruckender 
            als der Mut, der Tom Sawyer mit einer toten Katze zum Warzenentfernen 
            nachts auf den Friedhof führte. 
            
            Also, liebe Kinder, Nabokov hin oder her, wer ist nun der wahre Held? 
            
          
          jh