APRIL
2004

 
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LITERATUR


Der wahre Held: Tom Sawyer vs. Harry Potter

Mark Twain
Die Abenteuer des Tom Sawyer
Dressler 1999

Die Bibel unserer Kindheit, ein Buch über wahre Freundschaft und Mut, eine Gebrauchsanweisung für alle Schatzsuchenden, eine Lektüre voll nützlicher Kenntnisse, wie die Kunst des Warzenentfernens oder Pfeiferauchens: Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Mark Twains literarische Söhne. Heute haben Kinder andere Buchgestalten, zu denen sie aufblicken. Derjenige, der sich dabei am meisten durchgesetzt hat, kommt aus einer anderen Welt.

Erinnern wir uns doch an die gemütlichen Stunden vor dem Einschlafen, als wir atemlos, den Blick starr auf den Mund unseres Vaters gerichtet, den Abenteuern des Schatzsuchers Thomas Sawyer lauschten.

"Schau deine Hände an und deinen Mund. Was ist das? - Bei Gott, ich weiß es nicht, Tante! - Aber 'ich' weiß es, 's ist Marmelade. Wie oft habe ich dir gesagt, wenn du über die Marmelade gingest, würde ich dich bläuen. Gib mir den Stock her!" Der Stock zitterte in ihren Händen. Die Gefahr war dringend. - Holla, Tante, sie dich mal schnell um!"
Ich konnte diese Sätze nicht oft genug lesen. Tom Sawyer, der romantische Liebhaber ("Hast du Ratten gern?" fragte er Becky), der Kenner der Magie ("Sag - was machst du mit der toten Katze?" "Was? Warzen heilen." "So. Wirklich? Ich weiß was Besseres." "Wird was sein! Was 'ist's' denn?" "Na - faules Wasser!"), der erfolgreiche Schatzsucher, der mutige Held und wahre Freund, der Beschützer in Not… der Schuldtragende, wenn kleine Burschen ihre Gärten umgruben, ihren Tanten mangelnden Respekt erwiesen und um zwölf Uhr nachts versuchten, auf schaurigen Friedhöfen ihre Warzen wegzuzaubern.

Für mich war er DAS Idol, jemand, mit dem ich sofort meinen Kaugummi geteilt hätte ("Du kannst ihn 'ne Weile kriegen, aber dann musst du ihn mir wiedergeben!" Und dann kauten sie Gummi und stemmten die Knie gegen die Bank und waren seelenvergnügt). Denn kann man einem Jungen widerstehen, der beim ersten Rendezvous einen Eroberungstanz vollführt? Oder seiner Liebe das Leben rettet, indem er sie aus einem unheimlichen Labyrinth führt, seine eigene Angst verbergend, um sie nicht noch mehr zu verunsichern? Ach… diese Tapferkeit, dieser Edelmut! Für mich stand jedenfalls im Alter von 8 Jahren fest: Mein zukünftiger Ehemann würde einen Lockenkopf haben, hauptberuflich Pirat sein und barfüßig durchs Leben gehen.

Wenn ich heute jedoch Harry Potter von J.K. Rowling lese, so kann ich verstehen, wieso Onkel Twains Tom die Kinder nicht anspricht. Schließlich wurde die Steinschleuder durch einen Zauberstab ersetzt. Einen Zauberstab! Ein Aufstieg wie vom Unkraut zur Rose! Und wen interessiert schon der Meister der Kriegsführung, wenn man mit größerer Spannung ein interessantes Quidditchmatch verfolgen kann? Und was für ein Gegner ist schon Indianer Joe im Vergleich zu Lord Voldemort, der Verkörperung des Bösen? Na ja, und dann noch die Tatsache, dass selbst Nabokov Harry Potter gemocht hätte…

Dennoch hat Tom viele Eigenschaften, zu denen Harry Potter nicht einmal magische Kräfte verhelfen: sein Witz, seine Überzeugungskraft (wer schafft es schon, seinen Freunden einzureden, dass das Streichen von Zäunen zu den höchsten Künsten zählt?), die unschuldigen Frechheiten, mit denen er bei jeder Gelegenheit seine Tante aufzieht, und - nicht zu vergessen - sein herausragendes Zeichentalent…

Für mich wird Tom immer die Nummer 1 unter den literarischen Buben sein, möge die Welt der Kinderliteratur noch so außergewöhnliche Talente hervorbringen. Denn: Kein Kampf mit Lord Voldemort ist beeindruckender als der Mut, der Tom Sawyer mit einer toten Katze zum Warzenentfernen nachts auf den Friedhof führte.

Also, liebe Kinder, Nabokov hin oder her, wer ist nun der wahre Held?

jh