NOVEMBER
2008

 
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MEDIEN

„WILLKOMMEN BEI DEN SCH'TIS“
Kieferbruch, Chicorée-Kaffee und klirrende Kälte

Von einer Gegend, in der es immer kalt ist, deren Bewohner unverständlich vor sich hinbrabbeln und stinkenden Käse in ihren Getreidekaffee tunken, ist nicht viel zu halten oder? Dany Boons Kino-Erfolg über eine verkannte Region beweist das Gegenteil.


Der Postbeamte Philippe lebt mit seinem Sohn und seiner schönen, aber nörgeligen Frau Julie in der Provence. Um seine Ehe zu retten, sieht er nur einen Ausweg: eine Versetzung an die Côte d’Azur. Dies klappt erst, als er sich als Behinderter ausgibt. Der Schwindel fliegt jedoch auf, und Philippe wird strafversetzt: in die Region Nord-Pas-de-Calais an der Grenze zu Belgien. Die Lebensbedingungen dort sind den sonnenverwöhnten Südfranzosen so unvorstellbar, dass sie die schlimmsten Horrorgeschichten wachrufen: 0 Grad im Sommer – wenn man Glück hat! Julie überlässt ihren Mann lieber alleine seinem Schicksal.

Kaum in seiner neuen Heimat Bergues angekommen (was sich im Französischen so ausspricht wie „würg“ im Deutschen), fährt Philippe erst einmal seinen neuen Mitarbeiter Antoine über den Haufen. Als Antoine sich wieder aufrappelt und zum Sprechen ansetzt, glaubt Philippe, er habe ihn schwer am Kiefer verletzt – aber nein, die Bewohner von Bergues reden wirklich so. In der Folge muss Philippe nicht nur mit der komischen Sprache, sondern auch mit dem gewöhnungsbedürftigen Essen und dem schrulligen Verhalten der Bewohner zurechtkommen. Ziemlich schnell fühlt er sich in Bergues aber pudelwohl, was vor allem der äußerst herzlichen Aufnahme in den Kreis seiner Kollegen zu verdanken ist.

Als Philippe dies am Telefon seiner Frau erzählen will, denkt sie, er wolle seinen Schmerz vor ihr nur verbergen. So sagt er ihr schließlich, was sie hören will, und tut, als sei alles ganz schrecklich – mit dem Resultat, dass die sonst so nörgelige Julie vor Mitleid und Bewunderung in neuer Liebe entflammt. Dumm nur, dass sie bei Philippes nächstem Heimatbesuch beschließt, ihren Mann nach Bergues zu begleiten...

„Bienvenue chez les Ch'tis“ ist ein warmherziger Film über eine verkannte Region mit einer seltsamen Sprache, die zwar nicht mit besonders vielen Sonnenstunden oder einem mediterranen Lebensgefühl punkten kann, dafür aber mit dem, was einen Ort wirklich lebenswert macht: mit seinen Bewohnern. Man merkt die tiefe Zuneigung, die den Regisseur und zweiten Hautptdarsteller Dany Boon – er spielt den Antoine – mit seiner Heimatregion verbindet. Trotz aller Komik werden die Ch'ti-sprechenden Protagonisten daher auch nie vorgeführt; wenn, dann werden eher die Vorurteile der Südfranzosen aufs Korn genommen.

Es geht bei „Bienvenue chez les Ch'tis“ also um falsche Vorurteile und echte Unterschiede zwischen Nord- und Südfranzosen, die sich letzten Endes aber in Freundschaft auflösen. Eckstein dieser Unterschiede ist ohne Zweifel die Sprache. Das Ch'ti ist eine Variante des Picardischen, eine Regionalsprache, die in der Picardie, im Nord-Pas-de-Calais und in Teilen Belgiens gesprochen wird. Eine Theorie besagt, dass der Begriff ch'ti oder auch ch'timi während des Ersten Weltkriegs von französischen Soldaten geprägt wurde, die so ihre Kameraden aus dem Nord-Pas-de-Calais bezeichnet haben. Ursprung sei demnach der folgende Dialog gewesen: « Ch’est ti ? – Ch’est mi. » (Bist du’s? – Ich bin’s.)

Die für fremde Ohren ziemlich witzig klingende Sprache ist gekennzeichnet durch verschwenderisch viele „sch“-Laute, Vokalverschiebungen und eigene Ausdrücke, so wie der Begriff biloute, mit dem die Ch'tis gerne ihr Gegenüber betiteln – im Deutschen mit „Zipfel“ übersetzt (einschließlich der zweideutigen Konnotation). Im Laufe des Films führen diese Eigenheiten zu zahlreichen komischen Verwechslungen. Als Philippe etwa in seine leere Dienstwohnung kommt, erfährt er, dass sein Vorgänger die Möbel alle mitgenommen hat. Er fragt Antoine, wie das denn sein könne. Antoine antwortet in etwa (ohne Gewähr für die korrekte Wiedergabe des Ch’ti): « Ch’étotent les chiens » – es waren seine [Möbel], les siens. Philippe versteht chiens, Hunde – es waren die Hunde. Der Dialog geht eine Weile hin und her, bis das Missverständnis aufgeklärt ist.

Das Problem ist natürlich: Wie soll man das Ch'ti ins Deutsche übersetzen? Anstatt einen bestehenden Dialekt zu verwenden, hat man sich für eine Kunstsprache entschieden, die Christoph Maria Herbst als Antoine zungenfertig zum Leben erweckt. Die vielen Sprach- und Wortspiele gehen trotzdem verloren. Das oben genannte Beispiel wird etwa mit „seine“ und „Scheine“ übersetzt, was natürlich überhaupt keinen Sinn macht. Wer kann, sollte sich daher das französische Orginal ansehen.

Manchmal wirken die Missverständnisse allerdings auch im Original ein bisschen zu forciert, so wie generell die Ballung der Klischees zum Teil etwas an die Substanz gehen kann. Der herzliche Ton macht dieses Defizit allerdings wieder wett, und man darf auch nicht vergessen, dass es sich eben um eine – überzeichnete – Komödie handelt. „Bienvenue chez les Cht’is“ war in Frankreich mit über 20 Millionen Zuschauern der erfolgreichste Film aller Zeiten und hat der Region Nord-Pas-de-Calais einen enormen Auftrieb verliehen.

aw

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