JUNI
2002

 
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MUSIK


Grand Prix d'Eurovision: Ein Wettbewerb, der keiner mehr ist


www.eurovision.tv
Der Grand Prix d'Eurovision de la Chanson, seit 1956 eine der größten und wichtigsten Musikveranstaltungen Europas, verkommt immer mehr zur Farce. Wo einst Größen wie France Gall Lieder von Serge Gainsbourg sang, werden jetzt niveaulose Unterhaltung à la Horn und Raab und massentauglicher Pop-Einheitsbrei präsentiert.

Schlechter Geschmack ist kein deutsches Phänomen, sondern ist offensichtlich in ganz Europa weit verbreitet. Wie sonst konnte Griechenland, mit einer schönen Sprache und einst eine Hochkultur, mit einem in peinlichen Kostümen vorgetragenen erbärmlichen englischen Weltraum-Schlager überhaupt Punkte bekommen? Wie sonst konnte Israel, das eher aus historischen und politischen denn aus geographischen Gründen dabei ist, für ein vergleichsweise gutes, sechs Sprachen beinhaltendes Lied und eine hübsche Sängerin so schlecht abschneiden? Wie sonst konnte die stocksteife deutsche Kandidatin Corinna May mit einem todlangweiligen, einfallslosen und ebenfalls englischen Lied des völlig überschätzten Selbstdarstellers Ralph Siegel zu den Favoriten gezählt werden?

Die diesmal in einer Art Dauerwerbesendung für Estland übertragene Abstimmung ist seit jeher ein beeindruckendes Beispiel für beklagenswerte europäische Vetternwirtschaft. Qualität spielt eine untergeordnete Rolle, vielmehr ist wichtig, zu welchem Land das eigene – für das nicht gestimmt werden darf – die stärkste Verbindung hat; nur in den deutschsprachigen Ländern funktioniert das nicht. So wählen sich die teilnehmenden Staaten des ehemaligen Ostblocks ebenso gegenseitig wie Großbritannien und Malta, Griechenland und Zypern, Frankreich und Spanien. Frankreich, die selbsternannte „Grande Nation“, verkündet seine Ergebnisse mit der beneidenswerten Arroganz einer gescheiterten Großmacht – selbstverständlich auf Französisch, wo Englisch höflicherweise angebracht gewesen wäre. Auch die Moderation läuft zweisprachig, obwohl außerhalb Frankreichs nur in der Schweiz Französisch gesprochen wird. Wieso nicht noch auf Deutsch, das immerhin drei teilnehmende Länder abdeckt und in vielen osteuropäischen Ländern verstanden wird?

Haben die anderen Länder ihre Vetternwirtschaft, scheint es bei uns noch immer „die Mauer in den Köpfen“ zu sein. Unsicher ob der englischen Bezeichnung des Gastlandes sprach der deutsche Moderator den unfreiwillig komischen Satz „Good evening East-Tonia“ ins Mikrofon. Nichtsdestotrotz kamen viele Punkte für die osteuropäischen Länder von hier.

Deutschland macht sich dann auch weniger in der Abstimmung lächerlich als in der eigenen Vorauswahl. Dafür, daß nahezu alle deutschen Kommentatoren nach dem grandiosen, aber verdienten Versagen von Corinna May so „sprachlos“ zu sein vorgaben, fanden sie noch viele löbliche Worte, wo es schlicht und ergreifend nichts schönzureden gab. Ausgerechnet Ralph Siegel persönlich bringt es auf den Punkt: „Das war ja ein Auftritt wie Arsch und Friedrich!“ Es drängt sich sehr stark der Verdacht auf, daß May nur gewonnen hat, weil sie blind ist, neigen viele Deutsche doch geschichtsbedingt zu etwas bigottem Sozialverhalten. Und die Konkurrenz war groß. Die für Pop-Massenmusik talentierte und hübsche siebzehnjährige Isabell hätte es bestimmt sehr viel weiter gebracht, ebenso wie die auf der Hamburger Parallelveranstaltung auftretenden „No Angels“. Die lehnen eine Teilnahme am Grand Prix allerdings mit der (berechtigten) Begründung ab, jedes Land solle wieder in seiner eigenen Sprache singen, sie selbst sängen aber auf Englisch. Das ist zwar konsequent, aber als eine der erfolgreichsten deutschen Popgruppen hätten sie beinahe so etwas wie eine moralische Verpflichtung. Wie man sieht, ist die Angst vor einer Blamage stärker.

Auch das Endergebnis ist alles andere als zufriedenstellend. Von der musikalischen Leistung her hätte eigentlich Malta das Kopf-an-Kopf-Rennen mit Lettland gewinnen müssen, aber das läßt sich rein rechnerisch erklären. Großbritannien ist nunmal nur ein Land, Estland und Litauen sind zwei. Daß Dänemark mit der sympathischen jüngsten Kandidatin dieses Jahres und jämmerlichen sieben Punkten den letzten Platz belegt und daher nächstes Jahr ausgeschlossen ist, ist ebenso unverdient wie gemein.

Wäre überhaupt alles mit rechten Dingen zugegangen, hätte zum einen die Türkei viele Punkte aus Deutschland bekommen (es gab gar keine), zum anderen hätten mindestens drei Länder regelgemäß disqualifiziert werden müssen – darunter das siegreiche Lettland. Das Lied „I Wanna Be The Sunshine In Your Eyes“ erinnert viel zu stark an einen Titel der bereits erwähnten „No Angels“, bei denen lediglich das Licht mir einer anderen Vokabel bezeichnet wird. Es wäre auch gar nicht allzu abwegig zu behaupten, daß Lettland nur gewonnen hat, weil die Deutschen dem Lied unbewußt und wegen der Ähnlichkeit zur hier beliebten Vorlage ihre zwölf Punkte gegeben haben – sonst hätte tatsächlich Malta es geschafft.

Zypern präsentierte das Lied „Gimme Your Loving“, dessen Text (bestehend aus dem Titel und zwei andere Verse) allein hinreichend überzeugend nahelegt, daß es ganz bestimmt in den frühen 1990er Jahren schonmal von irgend einer, wenn nicht von allen der damals populären „Boygroups“ gesungen wurde, von denen man sich auch gleich die Choreographie (wenn sie diesen Namen überhaupt verdient) auslieh. Rußland ließ ein paar gebürtige Kenianer etwas singen, dessen Melodie wie eine nicht allzuweit entfernte Neuauflage des bekannten „Discovery Channel“ von „Bloodhound Gang“ klingt. Aber auch der deutsche Titel wirkt so neu nicht.

Insgesamt ist der Grand Prix d'Eurovision von einem fairen Wettbewerb zu einem verkrampften und unsportlichen Ärgernis verkommen. Im europäischen Fußball scheint es angesichts der englischen Boulevardpresse auch nicht viel anders zu sein. Vielleicht sind Wettbewerbe für eine leider noch so uneinige Europäische Union auch der falsche Weg. Wenn man sich schon damit abfinden muß, sollte man sich wenigstens für die kleinen baltischen Staaten Estland und Lettland freuen, denen er vermutlich einen bescheidenen und kurzfristigen wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Dann war der ganze Aufwand wenigstens noch für etwas gut.

mp