AUGUST
2004

 
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SPRACHE


Abduktion: Philosophen und Detektive der Erkenntnis auf der Spur
Dass der glückliche Zufall der Wegbereiter zu neuer Erkenntnis ist, passiert nicht selten. Sogar einen Begriff für diesen Sachverhalt gibt es: "Serendipität". Aber reicht allein der Zufall aus, um zu erklären, wie weit die Menschheit in ihrem Wissen bis heute gelangt ist? Diese Frage, wie man zu neuer Erkenntnis gelangt, stellte sich der Philosoph und Mathematiker Charles Sanders Peirce und modellierte den Schlussvorgang der Abduktion, bei dem ein menschlicher "Rateinstinkt" zum Tragen kommt.

Peirce (1839-1914) forschte auf dem Gebiet der formalen Logik, der Mathematik, der Astronomie, der Physik und der Wissenschaftstheorie. Letztere hat ihn wohl auch zu der Frage geführt, wie der Mensch zu neuen, nie vorher dagewesenen Gedanken gelangen kann. Dazu entwickelte er zunächst ein Modell, dass noch sehr stark an einen formalen Schlussmechanismus der Logik angelehnt war, den Syllogismus. Der Begriff des Syllogismus stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie "im Denken Verbundenes", denn bei diesem Schluss wird von zwei Aussagen auf eine dritte geschlossen. Z. B. kann man von den Aussagen "Sokrates ist ein Mensch" (Fall) und "Alle Menschen sind sterblich" (Gesetz) darauf schließen, dass Sokrates ebenfalls sterblich ist (Ergebnis). Je nachdem, welche der Aussagen gegeben sind und welche Schlussrichtung angewendet wird, unterscheidet man zwischen dem Schlussschema der Deduktion, der Induktion und der Abduktion. Bei Abduktion ist die Schlussrichtung genau umgekehrt, wie in dem gerade gegebenen Beispiel. Man schließt von einem Ergebnis und einem Gesetz auf einen Fall, d. h. man weiß, dass Sokrates sterblich ist (Ergebnis) und dass alle Menschen sterblich sind (Gesetz) und folgert auf die unbekannte Tatsache, dass Sokrates ein Mensch sein muss (Fall). Allein dieser Schluss verhilft uns zu neuer Erkenntnis, ist jedoch gleichzeitig unsicher. Wir können nicht gewiss sein, das richtige Gesetz herangezogen zu haben: Hätten wir z. B. die Regel "Alle Hunde sind sterblich" verwendet, dann wären wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um einen Hund handelt, der Sokrates heißt.

Wichtig ist also immer, dass die Erklärung plausibel ist, denn um nichts anderes als um eine Erklärung handelt es sich, wenn man bei der Abduktion eine bestimmte beobachtbare Tatsache als konkreten Fall unter eine Regel subsumiert. Und dies führt uns zu Peirce späterer, weiterentwickelter Theorie von Abduktion. Hier hält er sich nicht mehr strikt an das syllogistische Schema, sondern sieht es als viel wichtiger an, dass der Schluss der Abduktion eine plausible Erklärung für eine erstaunliche Tatsache liefert und diese damit verstehbar und weniger erstaunlich macht. Damit wird die Abduktion zum ersten Schritt in einem langwierigen Erkenntnisprozess: Durch die Abduktion wird eine noch unsichere erklärende Hypothese aufgestellt, die anschließend überprüft werden muss. Anstoß für die Erlangung von neuem Wissen sind also immer erstaunliche Tatsachen, die einer Erklärung bedürfen.

Dabei kann der Mensch nichts anderes tun, als die Erklärung quasi zu erraten. Laut Peirce hat sich aber im Laufe der Evolution die menschliche Wahrnehmung sozusagen derart an die Umwelt angepasst, dass wir - gesteuert durch diesen Rateinstinkt - sehr häufig richtig tippen. Sonst wäre die Zahl der bisher aufgestellten und sich bewährenden Erkenntnisse z. B. aus der Naturwissenschaft kaum möglich. Zu oft würden wir falsch liegen. Um diesen Rateinstinkt erfolgreich einsetzen zu können, muss der Mensch laut Peirce den eigentlichen bewussten Verstand ausschalten. Dies kann entweder durch großen Druck (z. B. ein Zeitlimit) oder durch völlige geistige Entspannung herbeigeführt werden.

Exemplarisch kann man Abduktionen sehr gut beobachten, wenn man sich in Kriminalromane vertieft. Jeder Kommissar und jeder Privatdetektiv befindet sich vor einem unerklärlichen Mord, einem Einbruch oder einem anderen Verbrechen und muss die richtige Erklärung erraten und versuchen diese zu beweisen. Interessant ist, dass verschiedene Romangestalten sich sehr unterschiedlich zu ihren Methoden äußern. So tut z. B. Sherlock Holmes gerne so, als ob er alles bereits im Voraus gewusst hätte und sich alles auf sicherem Weg mit scharfem Verstand hätte herleiten konnte. Er behauptet in einem der Romane: "I never guess" ("Ich rate nie"). Dabei abduziert auch er nur und ist auf seinen Rateinstinkt angewiesen. Viel offener geht sein französischsprachiger Kollege Maigret mit der Unsicherheit der gewonnenen Erkenntnis um. Sein Bekenntnis "Je ne déduis jamais" ("Ich deduziere nie") zeigt, dass er sich wohl bewusst ist, statt der sicheren Deduktion in seinen Schlüssen die unsichere Abduktion anwenden zu müssen. Ein weiteres sehr bekanntes Beispiel für die direkte Thematisierung der Methode der Abduktion ist Umberto Ecos berühmter mittelalterlicher Kriminalroman "Der Name der Rose". Hier diskutiert die Hauptperson, ein Mönch, der die Ursache der geheimnisvollen Todesfälle in der Abtei untersuchen soll, des öfteren mit seinem Discipulus über seine logischen Vorgehensweisen bei den Nachforschungen.

Interessant ist auch, dass wir derartige Schlüsse nicht nur bei der Aufstellung wissenschaftlicher Theorien oder kriminalistischen Nachforschungen vollziehen. Im Gegenteil: Im täglichen Leben sind wir sehr häufig darauf angewiesen, uns die Ursache bestimmter Tatsachen zu erklären. Dies tun wir spontan und unterbewusst durch Abduktion. Nur allzu häufig findet diese Schlusstätigkeit ihren Niederschlag in unseren sprachlichen Äußerungen. Wenn wir das Ergebnis eines Schlusses aussprechen, dann markieren wir dessen Unsicherheit u. a. durch Einfügen zusätzlicher Modalverben und durch den Einsatz bestimmter Tempora. Wir würden z. B. angesichts einer eingegangenen Topfpflanze eher vermuten "Die Blume muss wohl zu wenig gegossen worden sein", anstatt mit völliger Sicherheit zu behaupten "Die Blume ist zu wenig gegossen worden". Dadurch zeigen wir unserem Gegenüber, dass wir auf die Ursache nur schließen, uns ihrer aber nicht gewiss sind. Auch wenn man letztendlich noch weit davon entfernt ist, genau beschreiben zu können, wie diese Schlussprozesse im einzelnen ablaufen, geben solche sprachlichen Markierungen zumindest einen Hinweis auf das Ablaufen solcher Vorgänge.

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