JUNI
2002

 
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Das Oderbruch: Die Folgen des Zweiten Weltkrieges bis heute

 

Teil III


siehe auch:
Das Oderbruch bis zur Trockenlegung
Die Kampfhandlungen 1945



Ölbild der einstigen Golzower Kirche

Handelte der Beitrag im Mai-Ceryx über die Kampfhandlungen zur Einnahme Berlins im Frühjahr 1945, soll heute darüber berichtet werden, wie sich diese auch heute noch im Erscheinungsbild allerortens bemerkbar machen.

Das Oderbruch, einst der sprichwörtliche Gemüsegarten Berlins, mußte nach Beendigung des II. Weltkriegs neu urbar gemacht werden. Die blutgetränkte Erde war überall von tiefen Gräben und Granateinschlägen durchzogen. Enormer Arbeitseinsatz war erforderlich, um die bis zu 90 Prozent zerstörten Dörfer wieder bewohnbar zu machen.

Bei den Älteren ist der Krieg mit seinen unermeßlichen Zerstörungen natürlich noch immer von großer Bedeutung. Als Beispiel mag hier die Erzählung eines Golzower Ehepaares dienen. Der Mann war bereits 1934 in das Oderbruch gekommen, als er Westpreußen endgültig zu verlassen gezwungen war, da er die polnische Staatsbürgerschaft nicht annehmen wollte. Die Frau stammte aus Schlesien und war in den letzten Kriegsmonaten nach Mecklenburg geflohen. Nach 1945 kam ihre Familie nicht mehr zurück über die neue Grenze und mußte hier bleiben. Im Oderbruch angekommen, wollten sie zunächst in einem Haus, das von Granateinschlägen an mehreren Stellen Löcher aufwies, übernachten. Die Besitzerin kommentierte dies: „Hier können Sie nicht bleiben. Sie sehen ja, Hitler hat uns alles beschert, was er uns versprochen hat: Luftige und sonnige Häuser.“

Noch heute erinnern Munitionsfunde und Unfälle mit Sprengkörpern an diese furchtbare Zeit. So ist der Krieg in dieser Region noch in vielerlei Hinsicht gegenwärtig. In kaum einem der Dörfer hat sich ein Kirchengebäude erhalten. Hier macht es sich bemerkbar, daß die Kirchen im Oderbruch erst im 18. oder gar 19. Jahrhundert erbaut wurden. Anders als die mittelalterlichen mit einer Mauerstärke von bis zu zwei Metern boten sie den Sprengungsversuchen der Wehrmacht und Kampfhandlungen kaum Widerstand.


Reste der Kirche von Alt-Tucheband

Marienkirche in der Altstadt von Wriezen

Nun haben viele Kirchen in Deutschland Kriegsschäden davongetragen. In dieser gewaltigen Dimension aber ist die Lage einmalig. In manchen Fällen erfolgte nach dem Kriege zwar notdürftiger Wiederaufbau oder zumindest Restsicherung, vielfach aber blieb die stark beschädigte Bausubstanz sich selbst überlassen, falls nicht sogar der Abriß angeordnet wurde.
Nach der Wende kam bei vielen Menschen, nicht nur bei ChristInnen, die Hoffnung auf, daß entschiedene und schnelle Lösungen gefunden würden. Tatsächlich aber sind wegen der verschiedensten Gründe - vor allem aus Geldmangel - bis auf die Beseitigung von Schutt und Unkraut innerhalb der Mauerreste kaum Fortschritte zu erkennen. Während in vielen Orten Deutschlands schön anzusehende Kirchen den - nicht nur sprichwörtlichen - Mittelpunkt des Dorfes bilden, müssen die meisten Oderbruchdörfer auf ein markantes Gebäude verzichten. Zerstört sind damit auch Zentren der jeweiligen dörflichen Identifikation.

Diese mangelnde Identifikationsmöglichkeit ist nicht zu unterschätzen, denn nach der mittelalterlichen Siedlungsbewegung aus dem Westen des Römischen Reiches und der Zuwanderung im 18. Jahrhundert hatte der II. Weltkrieg die dritte fast völlige Bevölkerungsumschichtung mit sich gebracht. In keiner Region Deutschlands leben so viele ehemalige Flüchtlinge wie hier. Während viele BewohnerInnen vor den Kampfhandlungen nach Westen geflohen waren und nur zum Teil zurückkehrten, blieben viele der Flüchtlinge aus Schlesien gleich hinter der neuen Grenze in den zerstörten Dörfern hängen. Das Oderbruch hat keinen eigenen Dialekt, ist aber bei genauerem Hinhören von schlesischer Mundart durchsetzt.

Als ein Beispiel für die Zerstörungen historischer Bausubstanz sei hier Golzow genannt. Urkundlich bereits 1308 erstmals als Golsow erwähnt, erfuhr das Dorf im Zusammenhang mit der Trockenlegung des Bruchs eine erhebliche Vergrößerung. Der in seiner Struktur friederizianische Grundriß ist noch heute nachvollziehbar. Den Ort gliedert ein großer kreisrunder Platz, in dessen Zentrum die Kirche stand. Sie war ein verputzter Backsteinbau, dessen Kern der Mitte des 18. Jahrhunderts entstammte. Infolge der Erweiterung von 1854 wurde das Bauwerk durch Hinzufügen von Anbauten zu einer kreuzförmigen Anlage mit Turm über der Vierung umgestaltet. Die Golzower Kirche war als ansehnliches und augenfälliges Gebäude der Mittelpunkt des Oderbruchdorfes. Im Frühjahr 1945 wurde während der Schlacht um das Oderbruch die Kirche durch deutsche Truppen gesprengt. Der Abriß der Reste der Umfassungsmauern erfolgte in den Nachkriegsjahren. Um die Kirche für immer aus dem Dorfbild zu tilgen, wurde selbst der Standort unkenntlich gemacht, indem die Straßenkreuzung direkt darüber geführt wurde. Die Gemeinde richtete im gegenüberliegenden wiederhergestellten Pfarrhaus einen Kirchsaal ein. In diesem hängt ein Ölbild, das die ehemalige Kirche als markantes Bauwerk der Schinkelschule zeigt. Auch die Ruine des einstigen Gutshauses wurde mitsamt dem Park nach dem II. Weltkrieg abgeräumt. So vermag eine Golzower Postkarte außer dem vormaligen LPG-Kulturhaus wenig an markanten Gebäuden abzubilden.

Ein weiteres Dorf aus dem bereits im Mittelalter besiedelten oberen Bruchgebiet ist Alt-Tucheband, erstmalig 1336 als Tuchbant urkundlich erwähnt. Auch hier entstand die Kirche erst nach der Trockenlegung. Sie besaß einen hochaufragenden Turm mit gotisierend-spitzzulaufender Bekrönung aus dem 19. Jahrhundert. Vor einigen Jahren wurde der ehemalige Standort von Schutt und Überwachsungen befreit, wobei leider auch der darunter erhalten gebliebene Fußbodenbelag zerstört wurde. Die Stelle markieren heute geringe Reste der Turmmauern, in denen dessen Spitze steht.

Ebenfalls bereits aus dem Mittelalter stammt die Stadt Wriezen am Rande des mittleren Bruchgebietes. Einst dessen Metropole, nennt sie sich heute passender „das Tor zum Oderbruch“. Auch hier bietet sich das typische Ortsbild. Die Stadt ist im II. Weltkrieg fast völlige zerstört worden, so daß kaum noch ein historisches Gebäude erhalten geblieben ist. Der unzureichende sozialistische Wiederaufbau tat sein übriges und so zeigt sich Wriezen heute ziemlich gesichtslos. Allein im Zentrum wurde nach der Wende versucht, historische Marktplatzsituation wieder erahnbar zu machen. Das Bild der Marienkirche macht aber deutlich, daß außer deren Umfassungsmauern von der Altstadt nichts erhalten geblieben ist. Auch diese einst imposante, dreischiffige gotische Hallenkirche fiel im Kriege in Trümmer und bietet heute ein trauriges Bild ihrer einstigen Pracht. In den Resten des südlichen Seitenschiffes sind unter einem Notdach Kirchsaal und Gemeinderäume eingerichtet.

So fehlt es überall im Oderbruch den Orten an markanter historischer Bausubstanz, die Identität stiften könnte. Dies wirkt sich um so nachteiliger aus, als daß eine tiefe geistig-kulturelle Verwurzelung im Oderbruch auf Grund seiner besonderen Geschichte sowieso fehlt. Daß die Menschen schon immer traditionslos waren, ließe sich schließlich auch daran festmachen, daß die Bevölkerung vor dem Kriege tiefbraun und danach bis zur Wende dunkelrot war.