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           Handelte der Beitrag im Mai-Ceryx über die Kampfhandlungen 
            zur Einnahme Berlins im Frühjahr 1945, soll heute darüber 
            berichtet werden, wie sich diese auch heute noch im Erscheinungsbild 
            allerortens bemerkbar machen.
 Das Oderbruch, einst der sprichwörtliche Gemüsegarten Berlins, 
            mußte nach Beendigung des II. Weltkriegs neu urbar gemacht werden. 
            Die blutgetränkte Erde war überall von tiefen Gräben 
            und Granateinschlägen durchzogen. Enormer Arbeitseinsatz war 
            erforderlich, um die bis zu 90 Prozent zerstörten Dörfer 
            wieder bewohnbar zu machen.
 
 Bei den Älteren ist der Krieg mit seinen unermeßlichen 
            Zerstörungen natürlich noch immer von großer Bedeutung. 
            Als Beispiel mag hier die Erzählung eines Golzower Ehepaares 
            dienen. Der Mann war bereits 1934 in das Oderbruch gekommen, als er 
            Westpreußen endgültig zu verlassen gezwungen war, da er 
            die polnische Staatsbürgerschaft nicht annehmen wollte. Die Frau 
            stammte aus Schlesien und war in den letzten Kriegsmonaten nach Mecklenburg 
            geflohen. Nach 1945 kam ihre Familie nicht mehr zurück über 
            die neue Grenze und mußte hier bleiben. Im Oderbruch angekommen, 
            wollten sie zunächst in einem Haus, das von Granateinschlägen 
            an mehreren Stellen Löcher aufwies, übernachten. Die Besitzerin 
            kommentierte dies: Hier können Sie nicht bleiben. Sie sehen 
            ja, Hitler hat uns alles beschert, was er uns versprochen hat: Luftige 
            und sonnige Häuser.
 
 Noch heute erinnern Munitionsfunde und Unfälle mit Sprengkörpern 
            an diese furchtbare Zeit. So ist der Krieg in dieser Region noch in 
            vielerlei Hinsicht gegenwärtig. In kaum einem der Dörfer 
            hat sich ein Kirchengebäude erhalten. Hier macht es sich bemerkbar, 
            daß die Kirchen im Oderbruch erst im 18. oder gar 19. Jahrhundert 
            erbaut wurden. Anders als die mittelalterlichen mit einer Mauerstärke 
            von bis zu zwei Metern boten sie den Sprengungsversuchen der Wehrmacht 
            und Kampfhandlungen kaum Widerstand.
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      | Nun haben viele Kirchen in Deutschland Kriegsschäden 
          davongetragen. In dieser gewaltigen Dimension aber ist die Lage einmalig. 
          In manchen Fällen erfolgte nach dem Kriege zwar notdürftiger 
          Wiederaufbau oder zumindest Restsicherung, vielfach aber blieb die stark 
          beschädigte Bausubstanz sich selbst überlassen, falls nicht 
          sogar der Abriß angeordnet wurde.Nach der Wende kam bei vielen Menschen, nicht nur bei ChristInnen, die 
          Hoffnung auf, daß entschiedene und schnelle Lösungen gefunden 
          würden. Tatsächlich aber sind wegen der verschiedensten Gründe 
          - vor allem aus Geldmangel - bis auf die Beseitigung von Schutt und 
          Unkraut innerhalb der Mauerreste kaum Fortschritte zu erkennen. Während 
          in vielen Orten Deutschlands schön anzusehende Kirchen den - nicht 
          nur sprichwörtlichen - Mittelpunkt des Dorfes bilden, müssen 
          die meisten Oderbruchdörfer auf ein markantes Gebäude verzichten. 
          Zerstört sind damit auch Zentren der jeweiligen dörflichen 
          Identifikation.
 
 Diese mangelnde Identifikationsmöglichkeit ist nicht zu unterschätzen, 
          denn nach der mittelalterlichen Siedlungsbewegung aus dem Westen des 
          Römischen Reiches und der Zuwanderung im 18. Jahrhundert hatte 
          der II. Weltkrieg die dritte fast völlige Bevölkerungsumschichtung 
          mit sich gebracht. In keiner Region Deutschlands leben so viele ehemalige 
          Flüchtlinge wie hier. Während viele BewohnerInnen vor den 
          Kampfhandlungen nach Westen geflohen waren und nur zum Teil zurückkehrten, 
          blieben viele der Flüchtlinge aus Schlesien gleich hinter der neuen 
          Grenze in den zerstörten Dörfern hängen. Das Oderbruch 
          hat keinen eigenen Dialekt, ist aber bei genauerem Hinhören von 
          schlesischer Mundart durchsetzt.
 
 Als ein Beispiel für die Zerstörungen historischer Bausubstanz 
          sei hier Golzow genannt. Urkundlich bereits 1308 erstmals als Golsow 
          erwähnt, erfuhr das Dorf im Zusammenhang mit der Trockenlegung 
          des Bruchs eine erhebliche Vergrößerung. Der in seiner Struktur 
          friederizianische Grundriß ist noch heute nachvollziehbar. Den 
          Ort gliedert ein großer kreisrunder Platz, in dessen Zentrum die 
          Kirche stand. Sie war ein verputzter Backsteinbau, dessen Kern der Mitte 
          des 18. Jahrhunderts entstammte. Infolge der Erweiterung von 1854 wurde 
          das Bauwerk durch Hinzufügen von Anbauten zu einer kreuzförmigen 
          Anlage mit Turm über der Vierung umgestaltet. Die Golzower Kirche 
          war als ansehnliches und augenfälliges Gebäude der Mittelpunkt 
          des Oderbruchdorfes. Im Frühjahr 1945 wurde während der Schlacht 
          um das Oderbruch die Kirche durch deutsche Truppen gesprengt. Der Abriß 
          der Reste der Umfassungsmauern erfolgte in den Nachkriegsjahren. Um 
          die Kirche für immer aus dem Dorfbild zu tilgen, wurde selbst der 
          Standort unkenntlich gemacht, indem die Straßenkreuzung direkt 
          darüber geführt wurde. Die Gemeinde richtete im gegenüberliegenden 
          wiederhergestellten Pfarrhaus einen Kirchsaal ein. In diesem hängt 
          ein Ölbild, das die ehemalige Kirche als markantes Bauwerk der 
          Schinkelschule zeigt. Auch die Ruine des einstigen Gutshauses wurde 
          mitsamt dem Park nach dem II. Weltkrieg abgeräumt. So vermag eine 
          Golzower Postkarte außer dem vormaligen LPG-Kulturhaus wenig an 
          markanten Gebäuden abzubilden.
 
 Ein weiteres Dorf aus dem bereits im Mittelalter besiedelten oberen 
          Bruchgebiet ist Alt-Tucheband, erstmalig 1336 als Tuchbant urkundlich 
          erwähnt. Auch hier entstand die Kirche erst nach der Trockenlegung. 
          Sie besaß einen hochaufragenden Turm mit gotisierend-spitzzulaufender 
          Bekrönung aus dem 19. Jahrhundert. Vor einigen Jahren wurde der 
          ehemalige Standort von Schutt und Überwachsungen befreit, wobei 
          leider auch der darunter erhalten gebliebene Fußbodenbelag zerstört 
          wurde. Die Stelle markieren heute geringe Reste der Turmmauern, in denen 
          dessen Spitze steht.
 
 Ebenfalls bereits aus dem Mittelalter stammt die Stadt Wriezen am Rande 
          des mittleren Bruchgebietes. Einst dessen Metropole, nennt sie sich 
          heute passender das Tor zum Oderbruch. Auch hier bietet 
          sich das typische Ortsbild. Die Stadt ist im II. Weltkrieg fast völlige 
          zerstört worden, so daß kaum noch ein historisches Gebäude 
          erhalten geblieben ist. Der unzureichende sozialistische Wiederaufbau 
          tat sein übriges und so zeigt sich Wriezen heute ziemlich gesichtslos. 
          Allein im Zentrum wurde nach der Wende versucht, historische Marktplatzsituation 
          wieder erahnbar zu machen. Das Bild der Marienkirche macht aber deutlich, 
          daß außer deren Umfassungsmauern von der Altstadt nichts 
          erhalten geblieben ist. Auch diese einst imposante, dreischiffige gotische 
          Hallenkirche fiel im Kriege in Trümmer und bietet heute ein trauriges 
          Bild ihrer einstigen Pracht. In den Resten des südlichen Seitenschiffes 
          sind unter einem Notdach Kirchsaal und Gemeinderäume eingerichtet.
 
 So fehlt es überall im Oderbruch den Orten an markanter historischer 
          Bausubstanz, die Identität stiften könnte. Dies wirkt sich 
          um so nachteiliger aus, als daß eine tiefe geistig-kulturelle 
          Verwurzelung im Oderbruch auf Grund seiner besonderen Geschichte sowieso 
          fehlt. Daß die Menschen schon immer traditionslos waren, ließe 
          sich schließlich auch daran festmachen, daß die Bevölkerung 
          vor dem Kriege tiefbraun und danach bis zur Wende dunkelrot 
          war.
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