FEBRUAR
2008

 
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DIE WEISHEIT DER VIELEN
Teil 2: Das Web 2.0

Mit seinem faszinierenden Buch "The Wisdoms of Crowds" (siehe Teil 1 dieses Artikels) liefert James Surowiecki die theoretische Grundlage für das Web-2.0-Paradigma, welches Google & Co. die Vormachtstellung ermöglicht. Eine kritische Betrachtung ist angebracht.


 


Nach den in Teil 1 dargestellten Überlegungen zur Aggregation von Gruppenwissen stellt sich die Herausforderung, die Grenzen und Probleme beim Austausch und bei der Bewertung von Informationen durch barrierefreie, zugangsoffene und effiziente Interaktionssysteme zu überwinden, in denen ein ungehinderter Informationsfluss des Gruppenwissens in alle Richtungen ermöglicht wird.

Vergleicht man dieses Wunschbild mit den Möglichkeiten neuer, offener Kommunikationstrukturen des Internets, die Tim O'Reilly mit dem Begriff Web 2.0 subsumiert hat, so erkennt man unschwer darin die Grundzüge einer vierten Variante der Aggregation von Gruppenwissen.

Tim O'Reilly gibt in seinem Grundsatzbeitrag "What Is Web 2.0 - Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software" (O'REILLY 2005, siehe auch MUSSER & O'REILLY 2007) dieser Form der Aggregation von Gruppenwissen die etwas eindeutigere Bezeichnung "harnessing collective intelligence".[4] In einer Vielzahl von Büchern, darunter in dem Bestseller von Don Tapscott und Anthony D. Williams, Wikinomics, werden umfangreich Beispiele diskutiert, wie diese Bereitschaft zur Partizipation von Gruppenmitgliedern und damit zur Abgabe von Leistungen bei der Aggregation von Individualwissen erreicht werden kann (TAPSCOTT & WILLIAMS 2006).

Ohne Zweifel wirkt der von Tapscott und Williams im Untertitel ihres Standardwerks zur "neuen Ökonomie" verwendete Begriff "Mass Collaboration" deutlich harmloser als "harnessing". Im Buch selbst jedoch beschäftigt die Autoren jedoch vordringlich die Frage, durch welche Belohnungen Unternehmen in den Genuss der in der "wisdom of crowds" verborgenen Schätze gelangen kann.

Euphorisch fassen die Autoren die Aussichten eines solchen "Schatzhebens" wie folgt zusammen: "Billions of connected individuals can now actively participate in innovation, wealth creation, and social development in ways we once only dreamed of. And when these masses of people collaborate they can collectively advance the arts, culture, science, education, government, and the economy in surprising but ultimately profitable ways. Companies that engage with these exploding Web-enabled communities are already discovering the true dividends of collective capability and genius" (TAPSCOTT & WILLIAMS 2006, S. 3).

Belohnungen können sehr direkt und materiell erfolgen. Tapscott und Wlliams diskutieren viele Beispiele, wie durch das Aussetzen von Preisgeldern Unternehmen, zum Beispiel Procter & Gamble, ihre Forschungskapazitäten vervielfachen.[5]

Belohnungen für die Teilnahme können aber auch immateriell durch Anerkennung und persönliche Erfüllung, z.B. als Autor der Wikipedia erfolgen, oder aber das Ergebnis von rationalen Abwägungen - ich wirke mit und motiviere andere das Gleiche zu tun, am Ende stehen wir alle besser da - wie der Mitarbeit an Softwareprojekten wie zum Beispiel Linux sein.

Das eigentlich erstaunliche Phänomen des Funktionierens der "Abschöpfung" in diesem vierten Mechanismus liegt jedoch in der ausgeprägten Kurzsichtigkeit, mit dem das Erbringen der Beitrag und die ultimative Nutzung der Arbeitsergebnisse von den jeweiligen Gruppenmitgliedern wahrgenommen wird.

Vieles findet dabei gleichsam hinter dem Rücken der Akteure statt. Bereits Tim O'Reilly führt warnend in seinem paradigmasetzenden Artikel in 2005 aus: "But only a small percentage (of users) will go to trouble of adding value to your application via explicit means. Therefore, Web 2.0 companies set inclusive defaults for aggregating user data and building value as a side-effect of ordinary use of the application. As noted above, they build systems that get better the more people use them" (O'REILLY 2005, S. 7).

Dies erinnert an weiter oben beschriebenen Methoden des "data mining", das Konzept unterscheidet sich jedoch von dieser Vorgehensweise durch die absichtsvoll geplante unbewusste Abschöpfung unwissender "Freiwilliger". Obwohl alle diese "Freiwilligen" sehr wohl den Zusammenhang zwischen Arbeit und Entlohnung in anderen Lebenskontexten kennen und mit viel Engagement durchsetzen, käme kaum einer auf die Idee, von Larry Page und Sergey Brin, den Gründern von Google, einen Anteil von ihrem multimilliarden Vermögen zu fordern.

Dieses Vermögen ist im Wesentlichen durch die Arbeit von Erzeugern von Webseiten verdient worden, die fleißig Links von ihrer Seite auf andere Seite integriert haben und damit die zentrale Komponente der Google-Erfolgsformel, dem Page-Rank-Wert, tagtäglich freiwillig aufs Neue erstellen, oder wie Tapscott und Williams es formulieren: "And Google is the runaway leader in search because it harnesses the collective judgement of Web surfers" (TAPSCOTT & WILLIAMS 2006, S. 41).

An anderer Stelle führen sie aus, dass Google sich teure Experten, deren Effizienz dabei noch zweifelhaft sei, gar nicht leisten könne und dass somit die Abschöpfung des kollektiven Wissens notwendige Voraussetzung für den Unternehmenserfolg sei.

Könnte man diesen oben erwähnten "Freiwilligen" noch ihre Naivität über die Zusammenhänge ihres Tuns und der Mehrung des Wohlstandes der Eigentümer ihrer favorisierten Web-Seiten noch wegen mangelnder Einsicht oder Wahrnehmung nachsehen, so gibt es ohne Zweifel Phänomene im Web 2.0, bei denen diese Entschuldigung nicht mehr greift.

So beschäftigt sich Google in letzter Zeit mit einer der verbleibenden Grenzen künstlicher Intelligenz, dem Erfassen von Bildinhalten. Zwar verfügt Google über Millionen von Bildern in seinen Datenbanken, eine Suche ist jedoch in den meisten Fällen auf wenige Kriterien, z.B. Name des Bildes und Fotograf beschränkt, wobei selbst simple Homonyme oft zu grotesken, unbrauchbaren Ergebnissen führen.

Alle Versuche, die Probleme von Bildbeschreibungen mit Hilfe von KI zu lösen, stecken noch in den Anfängen. Google verfällt auf eine einfachere Lösung und erinnert sich der vielen leistungsbereiten Freiwilligen, die im WWW auf Beschäftigung wartend verfügbar sind und "erfindet" den "Google Image Labeler".

Organisiert wie ein einfaches Spiel, erhalten nach einem Zufallsprinzip zwei "Mitwirkende" jeweils das gleiche Bild gezeigt, mit der Aufforderung, innerhalb von zwei Minuten das Bild mit Begriffen zu beschreiben. Bei Übereinstimmung der gewählten Begriffe mit dem Zufallspartner erhält der Teilnehmer Punkte, die je nach Spezifität des Begriffs zwischen 50 und 120 Punkten variiert.

Wie viele Helfer mitwirken, verrät Google nicht. Betrachtet man jedoch den heutigen Highscore, so führt "MustObeenGdGirl" mit unglaublichen 17.220.570 Punkten.[6]

Sollte Google mit diesem Ansatz Erfolg haben, und daran besteht wohl kein Zweifel, so haben vielleicht "MustObeenGdGirl", "LikeWiseSeeYou", "MC Be" und die anderen Helfer zu irgendeinem Zeitpunkt den Börsenwert von Google um 5% erhöht, was gegenwärtig circa einem Betrag von 10 Milliarden Dolar entspräche. Man darf gespannt sein, ob "MustObeenGdGirl" einen Bonusscheck erhalten wird!

Dabei ist "Google Image Labeler" nur ein Beispiel von vielen. An der Reichtumsmehrung der Eigentümer der Web 2.0 Firmen wirken unter anderem die Kunden mit - Buchkritiker von Amazon, die tausenden von "Journalisten" von Ohmynews und alle Eigentümer von Computern, die einen YaCy Proxy auf ihren Rechner installieren und dem Crawler Zugang zu ihren lokal gespeicherten Datenbeständen gestatten, um nur einige wenige Beispiel zu nennen.

Alle die hier beschriebenen Phänomene der organisierten Aggregation und Abschöpfung des kollektiven Wissens von Gruppen in Kontext des Web 2.0 münden daher in der Frage, wem der "Wisdom of the Crowds" gehört und wie der Übergang von der Gruppe zum wirtschaftlichen Endnutzer tatsächlich vollzogen wird.

Eine verblüffende Antwort auf diese Frage gibt einer der führenden Vertreter der Blogger-Bewegung, Jeff Jarvis, bereits in der Überschrift seines Grundsatzartikels "Who owns the wisdom of the crowd? The crowd.", oder ausführlicher: "So who owns that collected wisdom of the crowd? I’d say the crowd does. Others merely borrow it if they continue to have the trust of the crowd and if they pay dividends back to that crowd" (JARVIS 2005).

Auch Jarvis wird von dem Problem getrieben, dass das kollektive Wissen von den von ihm als "Enablers" bezeichneten Firmen wie "Google, Del.icio.us, Yahoo, eBay, LastFM, iTunes, CraigsList, Wikipedia, Skype, Technorati, PubSub, IceRocket" [7] wertsteigernd abgeschöpft wird: "The question is: What do the enablers deserve for enabling? And what do we as individuals and as members of the collective deserve for creating the wisdom? What do we owe each other in this exchange of value?" (JARVIS 2005)

Seine Antwort, die man als typisch für eine Vielzahl von aktiven und über ihr Tun reflektierenden Mitgliedern von Web 2.0 Communities ansehen kann, fällt eindeutig aus: "But, again, we get paid in other ways: In getting knowledge back, in knowing we are building something together, in feeling a sense of empowerment and ownership, in just feeling good" (JARVIS 2005).

Damit wird deutlich, dass es in irgendeiner noch zu analysierenden Weise den "Enablers" gelungen ist, ihre persönliche Mehrung des Wohlstands hinter der Camouflage einer "New-Wave-Utopie" einer neuen Gesellschaft [8] zu tarnen und in vielen Fällen das hemmungslose Privatisieren der Arbeit vieler emsiger Freiwilliger so zu organisieren, dass diese dabei noch die Emotion des "just feeling good" entwickeln: Wann in der Geschichte hat Ausbeutung ein solches Glücksgefühl erzeugt? [9]

Solange diese Camouflage funktioniert, werden Bücher wie von Tapscott und Williams die Bestseller-Listen stürmen und werden selbst simple "me-too"-Produkte erfolgreicher "Enabler", übertragen auf andere Wirtschaftsräume, zu Reichtum bei den Kopierenden führen. Eine kritische Diskussion findet kaum statt [10], und denjenigen Gruppenmitglieder, die freiwillig und freudig der Aggregation und der Abschöpfung ihres Wissens zustimmen, eröffnen sich immer neuere und interessantere Möglichkeiten, ihre Beiträge zu abzuliefern.

Und all jenen, die sich für ihr Verhalten einen theoretischen Überbau im Form einer "Neuen Gesellschaft" zugelegt haben, sei zur Beruhigung versichert, dass der Grenznutzen jeder weiteren zuverdienten Milliarde für den einzelnen Aktionär/Eigentümer einer Enabler-Firma für ihn enttäuschend niedrig ausfällt. Daher gilt: Vorwärts, Ihr Argonauten!! Pelias wartet schon auf das Goldene Vlies!

jp

 


[4] Eine sicher gerechtfertigte Übersetzungsvariante von "Harnessing" wäre wohl auch "sich vor den Karren spannen lassen".

[5] Im Managementslang des Buches beschrieben als "Smart, multibillion dollar companies like Procter & Gamble that cultivate nimble, trust-based relationships with external collaborators to form vibrant business ecosystems that create value more effectively than hierarchically organized businesses".

[6] Legt man einen Durchschnittswert von 70 Punkten pro Treffer und fünf Treffer in zwei Minuten zu Grunde, so hat alleine "MustObeenGdGirl" bereits ca. 50.000 Bilder ausgewertet.

[7] Ohne Zweifel wiederum eine nette begriffliche Verharmlosung der wirtschaftlichen Interessenlagen, im Deutschen vielleicht etwas holperig mit "Ermöglicher" zu übersetzen, was fast schon ins Transzendenze ragt.

[8] "We’re still scribbling down Hammurabi’s Code. Once again, we are building a new society here" (JARVIS 2005).

[9] Vergleichbare Ansätze, die einem in den Sinn kommen, haben für die Erzeugung eines ähnlichen Glücksgefühls jede Menge Transzendenz ins Spiel bringen müssen. Andere Beispiele für diese Form des Austausches von "Leistungen" können vielleicht in vor-merkantilen, vor-industriellen Feudalgesellschaften zu finden sein, z.B. in der Relation "Fronarbeit gegen Schutz".

[10] Ein typisches Beispiel ist der deutsche Wikipedia-Artikel zu Google: Unter der Überschrift "Google in der Kritik" listen die Autoren Zensur, Datenschutz und Monopolstellung auf, jedoch findet sich kein Wort über die Problematik des Abschöpfungsprozesses in dem Artikel.

 

LITERATUR TEIL 2

J. JARVIS (2005). "Who owns the wisdom of the crowd? The crowd." http://www.buzzmachine.com/ 2005/10/26/who-owns-the-wisdom-of-the-crowd-the-crowd/

MUSSER, J., & O'REILLY, T. (2007). Web 2.0 Principles and Best Practices. Sebastopol, CA, O'Reilly Media.

O'REILLY, T. (2005). "What Is Web 2.0 - Design Patterns and Business Models for the Next Generation of Software". http://oreillynet.com/lpt/a/6228

TAPSCOTT, D., & WILLIAMS, A. D. 2006, Wikinomics: How mass collaboration changes everything. New York, Portfolio.

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