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Moleskine - Ein Gedächtnis in Baumwolle

Moleskin, sehr selten gewordener, schwerer Baumwollstoff der Manchester-Tradition, der mit ungewöhnlich starken Kettengarnen und hoher Dichtigkeit von Schußgarnen – bis zu 400 Fäden pro Zoll – gewebt wird, was nur auf besonderen Webstühlen möglich ist, die ihrerseits selten geworden sind. Das auch als „Englischleder“ bekannte Textil wird in zwölf rein mechanischen Arbeitsgängen, darunter z.B. Schmirgeln und Rauhen, hergestellt und stellt eine seltene Kreuzung der Eigenschaften „weich“ und „robust“ dar. Seinen Namen verdankt es der Ähnlichkeit mit Maulwurfsfell (mole = Maulwurf, skin = Haut).

Ungefähr so viel verrät der Katalog des auf qualitativ hochwertige, oft handgemachte Waren spezialisierten Versandhauses Manufactum über das Material Moleskin.

Moleskine ist auch der Name eines an sich unscheinbaren Gegenstandes, der jedoch auf seine Weise entscheidend mit der Kultur des 20. Jahrhunderts verbunden ist. „Als ein simples schwarzes Rechteck, mit karierten oder linierten Seiten, dessen Deckel von einem elastischen Band zusammengehalten werden, mit einer Innentasche für lose Blätter und einem Einband in Moleskin, dem er seinen Namen verdankt, hat dieser treue Reisebegleiter im Taschenformat Notizen, Geschichten, Gedanken und Eindrücke bewahrt, bevor diese sich in die Seiten geschätzter Bücher verwandelten“, schreibt der heutige Hersteller auf ein beigelegtes Blatt. Die Rede ist – von einem Notizbuch.

Moleskine ist das legendäre Notizbuch derjenigen europäischen Künstler und Intellektuellen, die die Kultur des 20. Jahrhunderts geprägt haben“, heißt es weiter. Tatsächlich macht eine Liste mit deren Namen einigen Eindruck. Henri Matisse ist darunter, Vincent van Gogh, Truman Capote, Ernest Hemingway. Seine Bekanntheit hat das papierene Juwel jedoch Bruce Chatwin zu verdanken, was nicht zuletzt auf dessen immensen Verbrauch zurückzuführen sein dürfte.

Chatwin bezog seine Notizbücher aus einem Schreibwarenladen in der Pariser Rue de l'Ancienne Comédie. Er ging niemals auf Reisen, ohne seinen Vorrat aufzufüllen. Bevor er nach Australien aufbrach, hatte er nicht weniger als einhundert Exemplare bestellt. Der Schreibwarenhändler mußte ihn jedoch enttäuschen: Le vraie moleskine n'est plus – „das echte Moleskine gibt es nicht mehr“, bekam er zu hören. Auf diese Nachricht hin begann Chatwin alle Moleskines aufzukaufen, die er finden konnte, aber das waren nur noch wenige. 1986 hatte auch der letzte Hersteller, ein kleiner Familienbetrieb aus Tours, die Produktion eingestellt. Über Nacht waren seine geliebten Reisebegleiter rar geworden.

Wieviel ihm die Bücher bedeuteten, läßt sich aus weiteren Anekdoten ersehen. So hatte er über die Jahre nicht nur die Angewohnheit entwickelt, vor dem Gebrauch die Seiten zu numerieren, sondern auch wenigstens zwei Adressen und einen Finderlohn hineinzuschreiben für den Fall, daß er sie verlor. Ein Zitat spricht Bände: Losing my passport was the least of my worries; losing a notebook was a catastrophe – „meinen Paß zu verlieren, war mein kleinstes Problem; ein Notizbuch zu verlieren, war eine Katastrophe“.

Die italienische Firma Modo&Modo, die den Klassiker neu aufgelegt hat, trägt der Geschichte Rechnung. Als wäre es eine Zigarre, trägt das kleine schwarze Buch eine Banderole in leuchtendem Orange, die Chatwins oben zitierten Spruch darbietet: Sie läßt bereits auf etwas Edles schließen. Im Schmutztitel findet sich Platz für eine Adresse, gefolgt von einer Zeile, die für die Höhe der Belohung (in US$) vorgesehen ist. In der berüchtigten Tasche auf der Innenseite des hinteren Deckels liegt der erwähnte Zettel, der in englischer und italienischer Sprache auf die Verwendung vorbereitet.

Und wie jedes ernstzunehmende Buch hat auch dieses eine ISBN-Nummer.

mp